Einundzwanzigster Juli
meint er, als ich mich für die Verspätung entschuldigen will. »Hast noch nichts verpasst.«
Nicht Siegfried, nicht Lanzelot, nein: Onkel Yps war der erste Held meiner Kindheit, und das lange bevor ich ihn persönlich kennenlernte. Seit dem Tod ihres Mannes steht er Omama zur Seite, hat das Heranwachsen ihrer drei Söhne begleitet und für zwei von ihnen Schicksal gespielt: für Max, indem er ihm Lexi vorgestellt, und für Eckhardt, indem er ihm Ina gerettet hat. Lange Zeit war das meine liebste Gutenachtgeschichte, die Mutter bei jedem Erzählen mit neuen dramatischen Details anreicherte, die aber alle ihren Ausgang im selben herzzerbrechenden Dilemma nahmen: Mein Großvater wollte seinen Ältesten kein bürgerliches Mädchen heiraten lassen! Auf dem Sterbebett nahm er Eckhardt das Versprechen ab, todunglücklich trennten sich die Liebenden am Grabe des Grafen und Ina trat die Rückreise nach Russland an, wo ihre Familie lebt.
Auftritt Onkel Yps! Er sprang auf den (laut Mutter bereits rollenden) Zug, tauchte in Inas Abteil auf und beschwor sie so lange, bis er (die russischen Grenzsoldaten streckten bereits die Hand nach den Pässen aus) ihren Stolz gebrochen und sie dazu bewegt hatte, mit ihm im nächsten Zug zurückzureisen.
»Kannst du es dieses Mal so erzählen, dass Onkel Eckhardt sie selbst zurückholt?«, bat ich Mutter eines Abends.
Sie sah mich entrüstet an. »Das hat er aber nicht! Es ist eine wahre Geschichte, da kann man nicht einfach alles verdrehen!«
Sprach’s und malte mir aus, wie Ina den traurigen Eckhardt im blühenden Schlosspark mit ihrer Rückkehr überraschte. Dabei hatte dieser in einer früheren Version bereits ungeduldig am Bahnhof gewartet, weil ihn ein untrügliches Gefühl beschlichen hatte!
Mich beschlich allmählich auch ein untrügliches Gefühl: dass nämlich meine Mutter die Geschichte komplett erfunden hatte. Das Gefühl verstärkte sich, als ich mir Onkel Eckhardt beim nächsten Familientreffen zum ersten Mal genauer anschaute. Der Zwillingsbruder von Onkel Max war ernst und schweigsam, geradezu einschüchternd, auf alle Fälle nur schwer mit einer romantischen Geschichte in Verbindung zu bringen.
Mutter leugnete beharrlich. Alles sei wahr, behauptete sie, und dass sie nicht immer stringent erzähle, liege daran, dass sie sich an manche vergessenen Details eben ganz spontan wieder erinnere. Im Übrigen brauche ich nur Onkel Yps anzusehen, um zu wissen, dass sie nicht log.
Das war nicht von der Hand zu weisen. Verstohlen musterte ich an jenem Tag auch den bislang wenig beachteten Großonkel. Schlank, grauhaarig, leicht vornübergebeugt wie ein Weidenbaum, mit großen Schritten, Hakennase und gepflegtem Schnurrbart – so und nicht anders stellte ich mir einen treuen älteren Ritter vor. Ich war zufrieden. Mutters Geschichte war zweifelsohne wahr.
Peng! Die Esszimmertür, eben hinter uns geschlossen, fliegt noch einmal auf und knallt gegen die Anrichte. Herein poltern Konstantin und Caroline, er sieben, sie fünf, und schielen vor allem nach mir, während sie kichernd an uns vorbeirennen. Wahrscheinlich wollen sie mir zeigen, was sie sich zu Hause alles herausnehmen dürfen.
Onkel Yps schnalzt nachsichtig in Richtung der Kinderschwester – Babette? Bernadette? Ich habe bei der Vorstellung nicht aufgepasst, war völlig in Bann geschlagen von dem blonden Haarkranz, der so straff um ihren Kopf geflochten ist, dass sie beinahe schielt. Sie knickst und läuft rot an, »Verzeihung, Herr Graf!«, um eilig hinter den Kindern her ins Nebenzimmer zu huschen, wo ein weiterer kleiner Tisch gedeckt ist.
Ich höre die drei zusammen lachen. »Soll ich auch?« Unschlüssig weise ich hinaus.
»Aber Fritzi, du bist vierzehn, du sitzt doch nicht mehr am Kindertisch! « Tante Ina greift nach dem Klingelzug, der das Glöckchen in der Küche in Gang setzt. »Omama ist noch bei Leuschners. Wir sollen schon anfangen.«
Die Privilegien des Adels mögen Vergangenheit sein, die Traditionen sind es längst noch nicht: Es ist Omama, »unsere Mutter des Dorfes«, an die sich die Leute wenden, wenn getröstet, geschlichtet oder eine schwierige Entscheidung getroffen werden muss. Herr Leuschner, der Urgroßvater der Pächterfamilie, liegt im Sterben. Vor rund vierzig Jahren hat er Omama mit der Kutsche zu ihrer Hochzeit gefahren.
»Oh Herr, schenke ihm einen sanften Tod und nimm ihn auf in dein Reich ...« Onkel Yps schließt Opa Leuschner ins Tischgebet ein, und während die Hausmädchen die
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