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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Ivo, sie wollen uns im Schloss nicht allein lassen, und kaum beginnt es zu dämmern, huschen weitere Besucher durchs Tor. Die Pächter der beiden Höfe, der Bürgermeister, der Pfarrer, mehrere Nachbarn, sie alle sprechen Omama und Nelly ihr Beileid aus und stehen danach unschlüssig herum, bis endlich einer ausspricht, was sie in Wahrheit bewegt: dass es einen Fluchtweg in die Schweiz gibt, wenn’s nottut.
    »Die Lautlitzer lassen Sie nicht im Stich, Frau Gräfin. An uns müssen die erst mal vorbei ...!«
    »Ich weiß es zu schätzen, Herr Leuschner«, erwidert Omama gerührt, »aber so schlimm wird es schon nicht kommen. Wir sind doch nur ein paar Frauen und Kinder ...«
    »... und wir wussten von nichts!«, fällt Nelly in einem so traurigen, fassungslosen Ton ein, dass ich ihr um ein Haar geglaubt hätte.
    Im Zimmer neben mir wohnt jetzt Tante Josi. Gepäck hat sie kaum dabei; trotzdem bringt sie es fertig, geschlagene zehn Minuten aufzuräumen. Faltet Wäsche, hängt ihr Ordenskleid auf einen Bügel und bürstet es, bürstet auch ihr Häubchen, kämmt sich das Haar. Eine Frage, die ich mir nie gestellt habe, findet gleichfalls eine Antwort: Nonnen tragen normales Unterzeug und schlafen in langen Nachthemden.
    »Die äußere Ordnung«, ruft Tante Josi in lebhaftem Ton, »hilft zur inneren!«
    Gut möglich, dass es dem Aufräumenden selbst so geht – mir gibt ihre Geschäftigkeit fast den Rest. Die Welt stürzt ein, Tante Josi räumt auf! Den ganzen Tag war ich wie betäubt, jetzt zuckenmeine Knie vor lauter Lust, ins Nebenzimmer zu rennen und alles auf den Boden zu werfen, was sie gerade knitterfrei aufgehängt hat. Eine Lawine rollt durch meinen Körper und findet keinen Ausgang; ich reiße die Bettdecke herunter, die ich mir übers Gesicht gezogen hatte, und schnappe nach Sauerstoff wie ein Fisch auf dem Trockenen.
    »Raus mit der Wut, du musst ja langsam platzen!« Mit einem knappen Meter Sicherheitsabstand steht Tante Josi neben meinem Bett und schaut milde auf mich herab.
    Das also war das Letzte, was mein Bruder auf dieser Welt gesehen hat: leuchtend blaue Augen, ein feines, weises, gütiges Lächeln. Blitzartig schießt ein Satz in die Erinnerung zurück: »Dem Jungen muss gewesen sein, als säße ein Engel an seinem Bett.« Vaters erster Brief an Mutter nach Fabians Tod; Worte, die ich damals nicht verstand.
    »Gut so!«, ermuntert mich Tante Josi. »Heul dich nur richtig aus.«
    Ich konnte ihr ja schlecht ein »Warum? Warum? Warum?« entgegenbrüllen!
    »Wenn Georg das getan hat, obwohl er damit seine Familie in Gefahr bringt«, glaubt Tante Josi, »obwohl er einen Eid auf den Führer geleistet hat und obwohl er ein guter Christenmensch ist, dann hat er nicht nur keinen anderen Weg gesehen, dann hat es keinen anderen Weg gegeben. Fünf Jahre Krieg! Die Leute sind müde, Fritzi. «
    »Aber doch nicht unseren Führer ... ! «, heule ich.
    » Fritzi, Georg war ganz nah dran an denen, die in Deutschland die Fäden in der Hand halten. Glaubst du nicht, dass er beurteilen konnte, wo das größte Hindernis für den Frieden liegt? Im Übrigen war er nicht allein, soweit wir wissen.«
    Das ist ja das Furchtbare. Onkel Georg habe ich kaum gekannt, aber wie ein Mühlstein hängen zwei Minuten im Wald um meinen Hals, und jemand, dem ich beinahe vertraut hätte.
    »Was passiert denn jetzt?«, frage ich zwischen zwei Schluchzern.
    Tante Josi hebt die Schultern – immerhin ist sie so ehrlich zuzugeben, dass sie das auch nicht weiß. »Hauptsache, die Familie lässt sich nicht trennen«, sagt sie mit Nachdruck.
    Mit bangem Herzen liege ich wach und horche – auf Schritte, auf Stimmen, das leise Knirschen von Autoreifen auf dem Kies, auf irgendetwas, das diese falsche Stille durchbricht –, doch hinter dem offenen Fenster bleibt alles ruhig.
    Vielleicht haben sie uns vergessen. Oder genug damit zu tun, diejenigen zu finden, die uns das alles eingebrockt haben!
    Ich hätte gar nichts melden müssen von dem, was ich im Wald belauscht habe. Es hätte genügt, auf den Weg zu treten und zu sagen: »Was immer ihr vorhabt, jetzt müsst ihr es aufgeben, denn ich habe euch gehört!«
    Vorbei. Zu spät. Woher du kommst und was du bist, das schleppst du mit, das zieht weiteres Unglück an, das wird schwer und schwerer wie ein nasser Rucksack im Gewitter.
    Diebe kommen in der Nacht, wenn alles schläft. Niemand sieht, wie sie die Tür aufbrechen, rauben, wieder verschwinden, niemand erkennt ihr Gesicht. Diebe kommen in der

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