Einundzwanzigster Juli
müssen sie noch seinen Dienstgrad genannt haben, Oberst von Lautlitz, das tun sie am Morgen schon nicht mehr. Onkel Georg ist jetzt nur noch ein toter Zivilist.
»Ich wusste, das etwas geplant war, aber doch nicht, dass er selbst ... ! «, flüstert Nelly. »Du lieber Gott, jetzt bitte nicht auch noch Eckhardt ... ! «
Da begreife endlich auch ich, warum Tante Ina nach Berlin fährt und aus welchem Grund sie hofft, jemanden bestechen zu können. Wer es war, den Lexi fliegen sollte und wohin und wozu.
Ich helfe Witta und Omama, die gesammelten Lebensmittel in zwei Taschen zu packen. Ich stelle die Taschen in Onkel Yps’Wagen zu Inas Gepäck. Ich bewege mich durch den Morgen wie eine Schauspielerin, hinter der versehentlich das falsche Bühnenbild herabgelassen wurde. Reagiere auf jedes Stichwort, das man mir hinwirft, warte fieberhaft darauf, dass jemand die Kulisse wechselt, doch nichts, was an unser Leben bis gestern anknüpft, passiert, außer dass der Volkstanzabend des BDM ausfällt.
Der Bund Deutscher Mädel fährt heute selbstverständlich zur spontanen Treuekundgebung für den Führer nach Albstadt.
»Ich habe keinesfalls die Absicht, mich zu verstecken«, erklärt Omama.
Verstecken! Ein neues Stichwort. Mein Blick huscht aus dem Fenster die Schlossmauer entlang, von den Wehrtürmen bis hin zum weit offenen Tor, und erkennt mit heißem Schreck zweierlei: dass niemand von uns daran gedacht hat, die Eisengitter zu schließen, und dass sich Nelly aufs Tor zubewegt wie eine Schlafwandlerin.
»Lass sie, Fritzi«, sagt Omama, als ich stumm hinauszeige – als ob sie mir noch zutraute, mich aus eigenem Willen zu bewegen! »Nelly muss jetzt erst einmal zu sich kommen.«
Zu sich kommen ...? Wie kommt jemand zu sich, oder überhaupt irgendwohin, dem der Boden unter den Füßen fortgesprengt wurde?
Im Dorf sei es ruhig, berichtet Onkel Yps, als er vom Bahnhof zurückkehrt; Tante Ina habe er noch völlig unbehelligt in den Zug nach Berlin setzen können.
Ich kann ihm kaum in die Augen sehen. Die Tanten mögen etwas gewusst haben, Onkel Yps wusste alles . Er hat Georg und Eckhardt geholfen, irgendetwas Wichtiges ... hat Mutters Teppiche, Bilder und Wertsachen in Sicherheit gebracht, und seine Neffen nicht.
Nur einen einzigen Augenblick der Schwäche konnte ich bei Omama beobachten: als Onkel Yps an diesem Morgen mit denWorten über unsere Türschwelle trat, »Vergiss nicht, er hat es aus Pflichterfüllung getan.«
Seitdem kommt sie mir größer vor, wie in der einen Sekunde gestern Abend, als sie glaubte, der Führer sei tot. Tot ist ihr jüngster Sohn, und Omama geht mit geradem Rücken. Das Tor bleibt offen! Niemand wird erleben, dass sich die Gräfin von Lautlitz mit ihren Enkeln hinter einer Mauer verschanzt.
Geweint wird nur in der Küche. Gespenstisch dringt das Schluchzen der Hausmädchen durch die verschlossene Tür.
Das wird zu sühnen sein! Das bleibt nicht ohne Folgen!
Mein Bauch ist schneller im Erkennen als mein Kopf; während der eine sich noch gegen die Gewissheit sträubt, hat der andere schon kapiert und krampft sich vor Angst zusammen.
Aber wir können doch nichts dafür!
Die Ellen in meinem Kopf weist mich zurecht. »Darum geht es nicht, Dummerjan! Die Familie des Verräters ist unwichtig. Wichtig ist, dass dem deutschen Volk die Konsequenzen des Verrats vor Augen gestellt werden.«
»Ich habe keinesfalls die Absicht, mich zu verstecken«, erklärt Omama, und dabei bleibt es.
Warten ist ein höchst merkwürdiger Zustand. Man fügt sich ins Schlimmste und erwartet doch, dass eine höhere Macht es verhindert, wenn man sich nur würdig und tapfer erweist; man ist dankbar für jede Minute, die man warten und hoffen darf, und sehnt doch nichts dringender herbei als Gewissheit und dass das Warten ein Ende hat.
Die Uhrzeiger bewegen sich, der Schatten wandert ums Haus, nichts geschieht. Wir sind ein winziges Rettungsboot, das auf den Wellen zum Schiff zurücktreibt. Am Nachmittag wird auf dem Rasen schon wieder Federball gespielt.
Auch Nelly kehrt zurück, sie hat einen der kleineren Berge erklommen und einen ganz klaren Kopf. »Einer von uns beiden mussden Kindern erhalten bleiben. Was immer sie mich fragen, ich werde von nichts wissen. Die dumme kleine Frau, die entsetzt ist über das, was ihr Mann getan hat. Das ist kein Verrat an Georg. Das ist, was wir besprochen haben und was er von mir erwartet.«
Onkel Yps, Tante Helma und Tante Josi kommen mit ihrem alten, steifbeinigen Hund
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