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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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schon zu dritt in der Tür. Die Haushälterin – hochrot im Gesicht – wringt ihre Schürze. »Frau Gräfin ... ein Anschlag ...«
    »Der Führer! Unser geliebter Führer!«, stammelt Lore.
    Schock, so haben wir es im Sanitätskurs gelernt, kann Langzeitfolgen haben. Im besten Fall endet es mit Teilamnesie und man hat seine Ruhe, im schlimmsten prägen sich die Bilder unauslöschlich ein, was zu Schlaflosigkeit, Magengeschwüren und allgemeiner Hysterie führen kann. Seit Piotr muss ich mich damit abfinden, dass ich zum zweiten Typus gehöre, und als wäre das nicht schon schlimm genug, sehe ich, sobald Unheil im Anflug ist, so genau hin, als hätte ich vorne, hinten, rechts und links je ein Paar Augen, das mit Bildern versorgt werden muss.
    Da ist der Blick, den Tante Ina und Tante Nelly einander zuwerfen. Also doch! Ich weiß nicht, ob eine von ihnen es tatsächlich ausgesprochen hat, aber das wäre nicht mehr nötig gewesen, denn es stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Tante Ina und Tante Nelly sind nicht bestürzt, nicht erschrocken, sie sind nicht einmal überrascht.
    Da ist der Ruck, der durch Omamas ganzen Körper geht, da ist die Art, wie sie sich aufrichtet, den Kopf hebt und die Schultern durchdrückt. Als sei sie jetzt, in diesem Augenblick, auf die Füße gestellt worden und um eine ganze Handbreit größer.
    Beides, der Blick der Tanten, der Triumph von Omama, kam und ging blitzschnell, doch ich habe es gesehen und ich weiß, dass es da war in der einen Sekunde, bevor sie dasselbe erkennen wie ich: Was Lore übers Gesicht rinnt, sind Tränen des Glücks .
    »Unser geliebter Führer! Die Vorsehung hat ihn bewahrt!«, jubelt sie.
    »Was ist passiert, Witta?«, fragt Omama gepresst.
    Die Haushälterin erzählt mit zitternder Stimme, was in diesen Minuten wie ein Lauffeuer durchs Dorf geht. Im Reichsrundfunk gab es eine Sondermeldung des Senders Königsberg. Ein Sprengstoffanschlag auf den Führer, er habe außer leichten Verbrennungen und Prellungen keine Verletzungen erlitten, er habe unverzüglich seine Arbeit wieder aufgenommen und Mussolini, den Duce, zu einer längeren Aussprache ...
    Omama stöhnt auf und stützt den Kopf in beide Hände. »Nicht schon wieder!«, murmelt sie.
    »Die Vorsehung!«, wiederholt Lore überwältigt.
    »Vielen Dank, liebe Witta. Sie können jetzt das Abendessen bringen.«
    Auf meinem Pfannkuchen ist eine dicke Kruste aus Zucker; sticht man mit der Gabel hinein, spritzt süßer roter Saft aus dem Teig.
    »Es muss nicht stimmen«, flüstert Ina.
    Sie flüstert, obwohl wir längst wieder allein sind. Niemand antwortet. Es ist Donnerstagabend und ich frage mich zum ersten Mal, ob das alles irgendetwas mit uns zu tun haben könnte.
    Omama hat es vom Nachbarn gehört. Noch in der Nacht muss der Führer selbst im Rundfunk gesprochen haben, und Omama ist es, die Tante Nelly und Tante Ina die Nachricht überbringt, morgens um halb acht, als beide noch im Bett liegen.
    Im Führerhauptquartier in Rastenburg ist es passiert. Ein Offizier, der zum persönlichen Bericht an Hitler eingeflogen worden war, hat eine Bombe in den Besprechungsraum geschmuggelt, hat sich selbst aus dem Staub gemacht und versucht, nach seiner Rückkehr in Berlin das Kommando an sich zu reißen. Selbstverständlich sei dieser gewissenlose Anschlag auf ein Volk im Kriegvereitelt und die kleine verbrecherische Clique, die dahintersteckte, noch in der Nacht im Hof des Kriegsministeriums erschossen worden.
    Der Name des Offiziers ist von Lautlitz. Wieder und wieder bellt der Reichsrundfunk unseren Namen, und auch die Zeitung weiß ihn schon.
    Nelly weint nicht. Nelly wiederholt nur ein ums andere Mal: »Aber warum denn er? Mit drei Fingern? Wie kann man denn mit drei Fingern einen Zünder betätigen?«
    Vielleicht so, wie man mit drei Fingern einen Schuh bindet.
    Guntram ist weiß wie die Wand, Eckhardt hat sich zum Weinen verkrochen. Sie sind die Einzigen der Kinder, die Bescheid wissen. »Der Papi hat sich geirrt«, hat Nelly zu ihnen gesagt. »Die Vorsehung schützte unseren lieben Führer.«
    »Ist der Papi tot?«
    »Das sagen sie. Aber Tante Ina fährt nach Berlin und findet heraus, ob es stimmt.«
    Tante Ina ist oben im Zimmer und packt, Onkel Yps ist bei ihr. Omama, Tante Josi und Witta laufen zu den Pachthöfen, um Lebensmittel zu beschaffen, die Ina nach Berlin mitnehmen soll, um jemanden bestechen zu können.
    Bestechen? Onkel Georg ist tot, das wiederholt der Rundfunk in Endlosschleife. In der Nacht

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