Einundzwanzigster Juli
Nacht, und die Gestapo auch. Lautlos und ohne Licht fahren ihre Wagen durchs Dorf. Als Lautlitz am Sonntagmorgen erwacht, sind die junge Gräfin Nelly und der alte Graf von Yffingen nicht mehr da.
Und wir gehen trotzdem in die Kirche, bestimmt Omama.
Mein Blick schweift, ich kann nichts dagegen tun. Ich sehe nicht die Kerzen auf dem Altar, ich sehe Onkel Yps das Licht entzünden an jenem ersten Abend; nicht die gesenkten Köpfe in den Bänken vor und hinter mir, sondern Nelly, aufrecht und ohne eine Spur von Angst, zwischen Uniformen die Treppe hinabgehen.
»Sollten wir nicht irgendetwas verbrennen?«
Am Nachmittag hatte ich Nelly und Omama reden hören.
»Briefe, Adressbücher, Seiten aus dem Gästebuch ...«
»Nicht mehr nötig«, erwiderte Nelly. »Alles, was uns gefährlich werden könnte, ist in Bamberg im Ofen gelandet. Georg hat bei seinen Besuchen stapelweise Papiere mitgebracht. Sie hatten in Wannsee Zentralheizung und konnten wegen des Hausmeisters nichts unbemerkt verbrennen.«
»Papiere ...?«, brachte ich heraus.
Erst jetzt schienen sie Notiz von mir zu nehmen. »Konzepte für die Zeit nach Hitler, glaube ich«, antwortete Nelly nach kurzem Zögern, doch von dem Moment an hörten sie auf zu reden, wenn ich, oder eins der Kinder, in ihre Nähe kam.
Yps und Nelly seien bald zurück, wiederholen Tante Helma und Tante Josi ein ums andere Mal, und Guntram erklärt seinen kleinen Geschwistern: »Müssen sie auch! Mami hat doch nur Gepäck für zwei Wochen dabei.«
»Aber du weißt es besser, nicht wahr?«, flüstert mir Ellen ins Ohr. »Du weißt, was passieren kann!«
In den Bänken vor und hinter mir heben sich plötzlich Köpfe. Der Pfarrer betet für Opa Leuschner, aber er wird doch nicht wagen ...?
Er wird. Mit leicht belegter Stimme bittet er für die Seele von Onkel Georg. Ich höre Atmen, Flüstern, sehe erschrockene, zustimmende, missbilligende Blicke, Blicke, die sich vergewissern, wie sie blicken sollen. Nur Omama blickt starr geradeaus, damit niemand auf den Gedanken kommt, er müsse auf sie Rücksicht nehmen.
Den Antwortteil der Gemeinde lässt der Pfarrer aus. Keiner soll jetzt sagen müssen: »Das ewige Licht leuchte ihm.« Der Pfarrer spricht die Worte selbst, er will niemanden in Schwierigkeiten bringen; nur ganz zum Schluss murmelt es hier und da verstohlen: »Amen.«
Draußen schart sich das Volk um den Führer. Der Volksempfänger spricht von Treuekundgebungen in fast jeder deutschen Stadt. Vier Männer hat die Bombe getötet, die Lagebaracke, Führers Besprechungsraum, ist völlig zerstört, doch er selbst unversehrt.
Die Vorsehung, was sonst? Nun muss ja alles gut werden, nun muss sich für Deutschland das Glück noch einmal wenden! Die letzten Zweifler sind verstummt, und die Gestapo verhaftet jetzt bei Tageslicht, damit jeder sieht, dass die Staatsmacht unverwundet ist.
Am Sonntagabend holt sie sich Omama und Tante Josi.
S IEBEN
Ob es bei einem Bombenangriff passiert ist? Die linke Gesichtshälfte der Frau, die mir gegenübersitzt, ist makellos, fast schön, die rechte grotesk verwüstet durch eine zentimeterbreite, tiefe Narbe, die sich vom Mundwinkel bis zum Ohr zieht. In den vier Stunden, seit sie mich abgeholt hat, habe ich die Frau noch nicht ein einziges Mal lächeln sehen. Vielleicht kann sie es nicht mehr mit diesem Gesicht.
Wohin sie mich bringt, habe ich gefragt, aber sie antwortet nicht. Dabei habe ich, als sie die Fahrkarten löste, schon gehört, dass es nach Berlin geht, und auch warum ich nicht schon gestern gemeinsam mit den Kindern weggebracht wurde, weiß ich. »Du gehörst nicht dazu«, sagte der Gestapo-Mann.
Du gehörst nicht dazu. Obwohl ich es an meinem ersten Tag im Schloss selbst so empfunden hatte, war ich wie vor den Kopf gestoßen. Drei Wochen allein mit Tante Helma, Witta, Bernadette und den Kindern, ohne Nachricht von irgendwem ... nicht eine Sekunde hatte ich das Gefühl, dass das, was geschieht, nicht auch mich betrifft!
Dass Onkel Eckhardts Telefon ein Fremder beantwortet, ohne zu verraten, wer er ist. Dass es unter Mutters und Lexis Nummer heißt: »Die Leitung ist frei, aber der Teilnehmer meldet sich nicht.«
Dass die Gestapo durchs Haus ging, als ob es ihr gehörte, in alle Schränke schaute, Notizen machte, mit einer langen, sorgfältig getippten Liste wiederkehrte und anordnete, kein einziger Gegenstand dürfe das Schloss verlassen. Auch die Wertsachen aus unserer Berliner Wohnung standen auf der Liste, wir dürfen nichts
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