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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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selbst mein Gepäck ist gefangen, aber auf keinen Fall werde ich mir die Blöße geben, ihren Koffer anzufassen, nur um an meine Jacke zu kommen!
    Ein heftiges Rascheln fängt meine Aufmerksamkeit. Schräg gegenüber, durch den Gang von uns getrennt, nimmt ein Mann den Völkischen Beobachter aus seinem Aktenkoffer. Umständlich entfaltet er die Zeitung und beginnt langsam, aber stetig zu blättern. Als suchte er etwas Bestimmtes ... oder als sollte ich die Überschriften erkennen können!
    Meine Bewacherin merkt nichts. Mein Blick huscht hinüber – nein, kein Wort über die Prozesse vor dem Volksgerichtshof. Ich schaue wieder weg, beobachte aus den Augenwinkeln, wie der Mann sofort die Zeitung zusammenfaltet und einsteckt.
    Mein Herz klopft. Er hat es meinetwegen getan! Ich habe mich nicht getäuscht.
    So sieht man mir an, dass ich verschleppt werde! Dass die Frau, die mich begleitet, nicht zu mir gehört! Was würde wohl passieren, wenn ich jetzt einfach aufstünde und um Hilfe riefe? Sie holen meine Familie, einen nach dem anderen, und niemand weiß, wohin!
    Nichts würde passieren, natürlich nicht. Aber tröstlich ist es doch, mir auszumalen, dass ich gesehen worden bin. Dass der Mann mit der Zeitung es am Abend seiner Familie erzählen kann: »Im Zug war ein junges Mädchen, das zu einer der Verschwörerfamilien gehört haben muss. Was mag wohl mit ihm geschehen?«
    Die Kinder hatten mehr Glück mit ihrer Begleitung. Die beiden Männer waren nett, scherzten mit ihnen, erlaubten sogar, dass Witta sie noch zum Pfarrer brachte, damit der sie vor ihrer Reise ins Unbekannte segnete. Und dennoch gingen die sechs nicht so willig mit wie ich. Konstantin tobte und schrie und klammerte sich an Witta, und alle außer Guntram weinten und bettelten herzzerreißend, Bernadette mitnehmen zu dürfen. Die sah aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen: hin- und hergerissen zwischen dem Entsetzen, ihre Schützlinge an die Gestapo übergeben zu müssen, und der noch größeren Furcht, sie müsse sie am Ende womöglich begleiten.
    Schließlich nahm Guntram die kleinen Koffer, die vor dem Eingangsportal standen, drückte jedem Kind den seinen in die Hand und kommandierte: »Los jetzt und hört auf zu heulen!«, worauf sie augenblicklich gehorchten und in den Wagen stiegen.
    Im Angesicht des Gebäudes, das wir auf dem Fußmarsch vom Bahnhof halb umrunden, um zum Haupteingang zu gelangen, beschleicht mich der Verdacht, dass die Kinder recht daran taten, sich bis zum Letzten zu wehren. Am Rande der verwüsteten Lehrter Straße erhebt sich eine Trutzburg, umschließen dicke Backsteinmauern und viereckige Türme ein sternförmiges Bauwerk mit dunklen, vergitterten Fensterlöchern.
    Ein Gefängnis. Mit dem Gedanken hatte ich schon gespielt, nun stehe ich direkt davor und kann es nicht glauben.
    Ein Tor in der Mauer öffnet sich, uns einzulassen; meine Bewacherin schiebt mich vor sich her, wie sie es schon seit dem Morgen getan hat. Vor uns liegt ein Gitter, wird rasselnd geöffnet undsofort hinter uns geschlossen, der Pförtner lässt den kompletten Schlüsselring mit Wonne gegen die Eisenstäbe krachen. »Philippa Bredemer, Sippenhaft«, meldet meine Bewacherin und reicht ihm ein Papier, das er kurz überfliegt.
    Sippenhaft! Das Wort fährt mir in die Knie. Als der Pförtner mit einer Handbewegung bedeutet, ich solle ihm über einen schmalen Streifen Hof zu einem Gebäude im Inneren vorausgehen, versagen meine Beine den Dienst, ich muss mich schmählich an der Wand abstützen.
    »Nun mach schon«, brummt er. »Hier wirst du noch nicht gefressen.«
    Meine Bewacherin lacht schadenfroh, es ist ihr Abschiedsgruß an mich. Mit zusammengebissenen Zähnen trete ich durch das nächste Gitter und höre das Tor in meinem Rücken zuschlagen.
    Ist das schon Angst ...? Alle Erwartung, alles Fühlen und Wittern richtet sich auf die nächste Tür, den nächsten Gang, die nächste Person, die mir begegnen wird. Es kommt mir vor, als müsste ich mich jeden Augenblick von meinem Körper trennen und neben mir herschweben können, vor mir selbst hereilen, mich selbst warnen. Nur kein falsches Wort, kein missverständlicher Blick! Ich will, ich werde die nächste Tür erreichen, die übernächste, die Tür dahinter. Meine Schritte hallen auf eisernen Stufen, Statuen gleich stehen reglose Gestalten an den Wänden. Blick geradeaus, Hände hinterm Rücken – Wächter in der Uniform der SS.
    Meine Personalien werden aufgenommen. Eigentlich steht

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