Einundzwanzigster Juli
Deutschland in Russland. Zweimal im Jahr kam Vater auf Fronturlaub, ein großes Ereignis, für das Mutter eine ganze Woche lang ihren Laden schloss. Wenn wir spazieren gingen, hakte sie sich an seinem rechten Arm unter, ich hing am linken und versuchte mit ihnen Schritt zu halten.
Bei einem dieser Urlaube kam er abends in mein Zimmer, ein Sagenbuch unterm Arm. Ich musste lachen. »Aber Vater! Ich bin jetzt zu groß, um vorgelesen zu bekommen!«
Einen Moment sah er so traurig aus, dass ich mich schämte, wenngleich ich nicht recht wusste wofür; sofort setzte ich mich auf, klopfte auf meinen Bettrand und tat, als hätte ich nichts gesagt.
»Dann lies du doch vor!«, meinte er. »Lies mir die Geschichte von Lanzelot! «
Und ich las für meinen Vater, der in Uniform an meinem Bett saß. Am nächsten Abend hatte er verstanden und kam nicht mehr in mein Zimmer.
»Ich glaube nicht, dass sie dich befragen werden, Fritzi«, sagt Mutter kopfschüttelnd.
Aber woher will sie das wissen? Ich bin die Einzige, die noch nicht vernommen wurde, und ich will vorbereitet sein. Bilder sammeln: Wer ist mein Vater? Sie müssen mir einfach glauben, dass er immer alles richtig gemacht hat, nur dieses eine Mal nicht!
Der Papi hat sich geirrt. Die einzige in Worte zu fassende Erklärung. Auch Vater hat sich geirrt, das kann doch vorkommen!
Nein, das werde ich sicher nicht sagen. Man darf es nicht zu leicht abtun, die Tragweite des Verbrechens muss mir ins Gesicht geschrieben stehen. Und ich werde nicht einmal lügen müssen.
Ja, natürlich bin ich enttäuscht von meinem Vater. Sein Verhalten mir gegenüber hat nichts dergleichen erwarten lassen.
Wenn sie mich doch endlich holten! Wenn ich es doch bald hinter mir hätte! Seit über zwei Wochen sitze und warte ich, dass ich entweder verhört oder verrückt werde: Jeden Satz, den ich denke oder sage, klopfe ich wie unter Zwang darauf ab, ob er zu gebrauchen ist.
Tante Ina hat mir zugeflüstert, dass es ihr genauso ging. »Und dann wollten sie fast nichts wissen. Wir Frauen interessieren sie nicht, wir sind nur hier, um die Männer unter Druck zu setzen.«
Unter Druck? »Auszupacken«, flüstert Ina mit starrem Lächeln. »Namen zu nennen. Frag mich bitte nicht, Fritzi, ich versuche es mir nicht genauer vorzustellen.«
Aber ihr Gesichtsausdruck straft sie Lügen; ich habe den Verdacht, Ina stellt sich nichts anderes vor, wenn sie allein ist. »Glaubst du«, hat sie eine der anderen Frauen gefragt, »dass sie die Kinder für medizinische Experimente heranziehen?«
Bei Voralarm werden wir in den dritten Stock gebracht – nicht in den Luftschutzkeller, da wir »nicht rettenswert« sind, wie die Gestapo meint. Müssen uns anziehen, schweigend in der offenen Zellentür warten, bis alle bereit sind, und dann marschiert man uns über mehrere Treppen in einen leeren Raum mit großem Fenster, durch das man ein irres Feuerwerk betrachten kann: die hin und her zuckenden Flakscheinwerfer, das rote Glühen, das zitterndüber der Stadt liegt, bei Nacht die Lichtblitze und bei Tag die Bombergeschwader, die in wohlgeordneten, fest geschlossenen Reihen am Himmel auftauchen, von kleineren, flinken Jagdflugzeugen begleitet. Deutsche Jagdflieger sind fast nicht zu sehen.
Die Gestapo will uns Angst machen, indem sie uns schutzlos diesem Schauspiel aussetzt, aber das gelingt ihr nicht. Kaum sitzen wir, geht das Geflüster los: »Hast du von dem gehört? Von diesem? Von jener? Wer hat Post bekommen? Wer ein Paket?«
Wenn die Frauen Glück haben, gibt es einen Angriff und sie können ausgiebig sitzen und reden, jede Sekunde nutzen, während die Wucht der Einschläge rund um den Lehrter Bahnhof den Putz von Wänden und Decken sprengt. Das ganze Gebäude wird hochgehoben und rumpelt knirschend zurück ins Fundament; die Frauen horchen kurz und reden weiter.
Haben sie Pech, kommt Entwarnung. Schon an den enttäuschten Gesichtern ist dann abzulesen, wer zu uns gehört.
Zu uns. Den Verräterfamilien! Sie duzen sich alle, obwohl die meisten sich vorher nicht kannten, nichts von den Umständen ahnten, die sie hier zusammenführen würden. Da sind die unerschrockene Marion und die nachdenkliche Bärbel, die ein drei Monate altes Baby zurücklassen musste; da ist die noch ganz junge, bildhübsche Clarita oder Mädy, die anfangs vor Entsetzen so außer sich war, dass man schon dachte, man müsse sie nach Buch in die Irrenanstalt schicken.
Neidische Blicke treffen Mutter: »Du hast dein Kind bei dir, du hast es
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