Einundzwanzigster Juli
Können sie Onkel Yps so unter Druck setzen , dass er ihren Namen nennt?
Sobald ich auf der Pritsche liege und die Gedanken zu purzeln beginnen, geht es mir nicht aus dem Kopf: dass ich nun ein zweites Geheimnis habe, ein lebensgefährliches Geheimnis. Meine Angst, im Verhör etwas Falsches zu sagen, wächst – und das ist nicht meine einzige Sorge.
»Seit wann redest du im Schlaf, Fritzi?«, fragt Mutter wie beiläufig.
»Wieso? Was rede ich denn ... ?«
»Wirres Zeug. Flugzeuge und Brunnen und irgendetwas von einer Feder.«
»Brunnen? Keine Ahnung. Bitte weck mich beim nächsten Mal! «
Ich versuche mich auszutricksen, indem ich nur an Omama und Nelly denke, von ihnen erzähle, sie vermisse. »Ich wusste ja gar nicht, dass du so an Omama hängst«, freut sich Mutter.
Ich kann zaubern! Lexi ist nie mit mir in Lautlitz gewesen, ich habe sie nie gekannt. Den anderen gegenüber, wenn’s drauf ankommt, funktioniert der Trick also.
Der Gefängnisseelsorger von Tegel und Moabit kommt mit ausgebeulten Taschen. Ich frage mich, ob draußen wirklich niemand bemerkt, was er alles hineinschmuggelt, oder ob sie einfach nur sämtliche Augen zudrücken. Die Vorsteherin ist anständig, eine feine Frau , das sagen alle, und so etwas kann ja auf das Wachpersonal nicht ohne Einfluss bleiben! Ja, von den Wanzen, der kargen Verpflegung und vielleicht auch dem Umstand einmal abgesehen, dass man eine Zellentür hinter uns zusperrt, obwohl wir selbst keines Verbrechens angeklagt werden, hat niemand von uns irgendeinen Grund, sich zu beklagen.
Der Gefängnispfarrer ist erst zum zweiten Mal bei uns und meine Mutter nennt ihn Harald! Mit nahezu stolzem Lächeln hatsie ihn beim ersten Mal begrüßt: »Nun bin ich tatsächlich hier und es ist nicht einmal meine Schuld!«
Verheißungsvoll lächelnd breitet Harald eine Serviette über den zerkratzten kleinen Tisch und greift in seine Taschen: Kandiszucker, Mohrrüben, Äpfel ... und Honigbrötchen, eingewickelt in Stanniolpapier! »Bitte bis auf den letzten Krümel aufessen«, sagt er, »sonst bekomme ich draußen Ärger.«
Honigbrötchen! Mein Gaumen zieht sich zusammen von dem unerwarteten, fast schockierenden Genuss; es ist so viel Honig da, dass er seitlich aus dem Brötchen tropft und ich ihn gierig mit den Fingernägeln aus der Serviette kratzen kann.
»Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen, Fritzi?«, fragt Harald. Er hat ein offenes, junges Gesicht, blondes Haar und freundliche, von tiefen Schatten umgebene Augen.
»Fritzi träumt schlecht«, antwortet Mutter für mich, »sie hat schreckliche Angst vor einem möglichen Verhör, aber wenn ich ihr vorschlage, sich mit Nähen oder Stopfen abzulenken, will sie das auch nicht.«
Eine Memme von einer Tochter, soll das wohl heißen. »Ich werde sehen, dass ich ihr ein paar spannende Bücher besorge«, meint Harald.
Da sage ich es ihm auf den Kopf: »Sie kannten meine Mutter schon vorher! Sie sind der, der die Lebensmittelmarken für die Taucher sammelt.«
»Fritzi! «, zischt Mutter. »Bist du wohl still!«
»Lass gut sein, Almut«, sagt Harald gelassen, »die Wände sind dick. Ja, ich bin der mit den Marken, Fritzi, und draußen gibt es ein ganzes Netzwerk von Leuten, die nun auch für euch aktiv werden.«
Für uns? Mit glühenden Wangen starre ich auf den klebrigen Rest Brötchen in meiner Hand. Leute ...? Leute, die uns gar nicht kennen ...?
»Ich habe euch Schreibzeug mitgebracht.« Harald legt einen angebrochenen Notizblock und einen Bleistift auf den Tisch.»Vielleicht wollt ihr nächstes Mal eine Botschaft für jemanden mitgeben.«
Eine Botschaft? An wen sollten wir schon eine Botschaft richten! Die ganze Familie sitzt in Haft, für uns kann niemand etwas tun.
Ein komischer Pfarrer ist das. Von Gebet keine Rede. Schmuggelt Dinge herein und heraus, selbst Briefe der Männer, die in Tegel und Plötzensee einsitzen. Weiß, wer wo sitzt und wer vor Gericht steht, war derjenige, der Marion Yorck von der Hinrichtung ihres Mannes erzählt hat, und die Sache mit den Lebensmittelmarken hatte ich nur geraten!
Bevor er geht – alle Spuren unseres Gelages restlos beseitigt –, singt er mit Mutter noch einen Choral aus dem Gesangbuch. Wahrscheinlich hätte er sich gefreut, wenn ich mitgesungen hätte, aber mein Mund bleibt so fest verschlossen, dass mir fast der Kiefer knackt.
Beim nächsten Mal vielleicht. Harald Poelchau und seine Frau nennt man in Moabit nur die Schutzengel. Für Mutter und mich ist er die einzige
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