Einundzwanzigster Juli
gut ... ! « Manchmal schiebt sich eine fremde Hand in die meine, wenn wir uns auf den Fußboden im dritten Stock setzen, an die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt.
Aber wenn es irgend geht, versuche ich einen Platz neben Ina zu ergattern. Wir waren zusammen, als das Unglück geschah, ich war dabei, als ihre Kinder abgeholt wurden. Neben Ina zu sitzen gibt mir beinahe das Gefühl, dass das, was war, und das, was ist, irgendwie zusammengehören.
An das, was ist, gewöhne ich mich. Das Knistern des Strohsacks höre ich nicht mehr, wenn ich mich nachts darauf umdrehe, den Gefängnisgeruch trage ich längst selbst mit mir herum, die Gluthitze in der Zelle ist mir lieber, als zu frieren. Die Prozedur mit dem Kübel beherrsche ich selbst im Dunkeln, nachdem ich ihn in den ersten Tagen vor Ungeschick und Scham fast umgeworfen hätte, und das häufige, wortlose Öffnen und Schließen der kleinen Klappe in unserer Tür zum Zweck der »Lebendkontrolle« bekomme ich kaum noch mit.
Ich bin darauf vorbereitet, dass die Aufseherinnen ständig wechseln und jede ihre eigene Methode des Bettenmachens hat. Was der einen recht ist, wird am nächsten Tag von der anderen wieder eingerissen: So geht das nicht! Mach es neu! Aber bis auf kleine Schikanen ist die Behandlung anständiger, als wir unter diesen Umständen erwarten können.
Doch nicht, dass ich keine Wünsche mehr hätte! Ich wünschte, es gäbe ausreichend zu essen und ich wäre nicht ständig so hungrig, dass ich, allen Anstand vergessend, einen Teil von Mutters Suppe annehme, obwohl ich weiß, dass sie nur vorgibt, satt zu sein. Denn wie kann man satt werden von einer dünnen Scheibe Brot am Morgen und am Abend, und mittags einem Blechnapf voll Brühe, in der halb rohe Steckrüben oder Erbsen mit Sand und Holzstückchen schwimmen? Nur sonntags gibt es eine Scheibe Wurst und in der Brühe ein paar Brocken Fleisch.
Ich wünschte, ich hätte nicht mit Mutter die Pritsche getauscht, hätte ihr Angebot nicht angenommen, aber allein die Vorstellung, mir könnten nachts wieder Wanzen ins Gesicht fallen, treibt mir Schauer über den ganzen Körper. Die Wanzen sitzen in einem Loch in der Zellendecke. Tagsüber schauen sie auf uns herunter, man hört sie rascheln und kichern und sobald es dunkel wird, machen sie Ausflüge. Krabbeln schwerfällig die Wände herunter, eine hier, eine dort, manchmal mehrere nebeneinander wie ein vorrückender Trupp, und die besonders Kühnen oder besonders Faulen lassensich kurzerhand aus dem Loch auf die darunterstehende Pritsche fallen. Mutter zieht sich die Decke über den Kopf und schläft weiter und ich schäme mich umso mehr ob des Schreikrampfs, den ich in der ersten Nacht bekam, als ich feststellte, dass mein gesamtes Lager lebte.
Die Bisse bemerkt man erst am Morgen. Sie jucken zum Zerspringen. Ich wünschte, ich könnte mich besser beherrschen und aufhören, meine Arme und Beine zu zerkratzen. Ich sehe schon aus, als hätte ich die Masern.
Ich wünschte, es gäbe mehr zu lesen als das Neue Testament, das Evangelische Gesangbuch und die Namen an der Zellenwand. Mutter rezitiert Gedichte, singt Löns und Schumann; ich wünschte, ich müsste das nicht den ganzen Tag anhören!
Ich wünschte, wir hätten mehr Licht. Eine halbe Stunde Spazierhof ist alles, was man uns zugesteht, und von Tag zu Tag werden die Gesichter, denen ich begegne, grauer, die Schritte schleppender, während wir schweigend Runde um Runde laufen. Reden ist beim Hofgang nicht erlaubt, man muss einen vorgeschriebenen Abstand einhalten. Zu hören gibt es die Lautsprecherdurchsagen des nahen Bahnhofs, zu sehen die Mauer um den Spazierhof, den Himmel, Baumspitzen und manchmal ein Gesicht in einem Fenster.
Aber mehr als all das wünschte ich, ich wüsste endlich Bescheid. Immer neue Frauen laufen beim Hofgang mit – eine, die auf dem Schwarzmarkt erwischt wurde, eine, die BBC gehört hat und von der Nachbarin verpfiffen wurde, mehrere Französinnen wegen Arbeitsverweigerung. Nachts hört man sie trotzig die Marseillaise singen! Doch keine Spur von Nelly, von Omama und Tante Josi, keine Spur von ihr, deren Namen ich nicht mehr zu denken wage. Ist sie Sippenhäftling wie wir, oder hat man schon entdeckt, dass sie um ein Haar dabei gewesen wäre? Hätte sie denn ein schnelleres Flugzeug gehabt ...
Nein! Das reicht! Nicht weiter! Die Vorsehung hat sie bewahrt, wie den Führer! Aber wer weiß noch davon außer Onkel Georg,der nichts mehr verraten kann, Onkel Yps und mir?
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