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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Verbindung nach draußen.
    Unser zweiter Engel ist Frau Schleicher, die Kalfaktorin, die sich als Gefängnisdienerin vorgestellt hat. Frau Schleicher gehört zu den »Bibelforschern«, Zeugen Jehovas, die Kriegs- und Arbeitsdienst verweigern, und sitzt seit fast fünf Jahren. Eine abgezehrte ältere Frau in Häftlingskleidung, die uns dreimal täglich das Essen bringt und zweimal täglich den Kübel leert, obwohl es nur einmal vorgeschrieben ist.
    »Ihr seid doch zu zweit«, sagt sie, »da wird er doch doppelt so schnell voll.«
    »Sie sind eine Heilige, Frau Schleicher«, meint Mutter, worauf sie so heftig und erschrocken abwehrt, als sei Dankbarkeit ein Angriff auf ihre Demut.
    Betet für die Seele von Otto und Mia!, steht auf Augenhöhe an der Wand über meiner Pritsche, und dazu das Datum 1903. Ich möchte wissen, was sich Otto und Mia dabei gedacht haben: uns noch nach vierzig Jahren mit ihrem Schicksal zu behelligen! Wer hier einschläft, hat seine eigenen Sorgen, der möchte nicht jeden Abend an Otto und Mia erinnert werden und sich fragen müssen, ob sie womöglich in der anstaltseigenen Hinrichtungsstätte von ihrer Seele getrennt wurden. Überhaupt, müsste es nicht Seelen heißen?
    Ich finde, wer sich hier verewigt hat, sollte dafür sorgen, dass dazugeschrieben wird, was aus ihm geworden ist!
    Vom Boden zu meiner Linken kommt angestrengtes Pusten und Schnaufen: Mutter plagt sich mit ihrer Gymnastik. Wenn ich mich umdrehen würde, könnte ich ihren roten Kopf alle drei Sekunden neben meinem Strohsack hochschwingen sehen, ein dampfendes, zerzaustes Pendel. Auf, ab, auf, ab. Da starre ich doch lieber auf Otto und Mia und warte, bis sie fragt ...
    »Fritzi, komm schon, willst du nicht mitmachen?«
    Ich wusste es! Auf Mutter ist Verlass. In bestimmten Situationen gibt sie das stets gleiche Repertoire mit einer Zuverlässigkeit zum Besten, dass man die Uhr danach stellen könnte.
    Oberhalb von Otto und Mia hat jemand auf Russisch gekritzelt. Lange ist das noch nicht her; wenn ich mit dem Zeigefinger reibe, verwischt die Schrift bis auf einen ganz feinen, fast unsichtbaren Strich. Ich setze mich auf und arbeite daran, nehme sogar die Fingernägel zu Hilfe.
    Endlich hat Mutter ausgeschwungen. Jetzt sitzt sie auf ihrer Pritsche, lässt den Schweiß auf der Haut trocknen, was gesund sein soll, und beobachtet düster und ratlos, mit welch sinnstiftenden Dingen sich ihre Tochter wieder beschäftigt. Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was als Nächstes kommt: »Du machst das nur, um mich aufzuregen!«
    Schade, warum habe ich nicht mitgesprochen? »Wasch dich wenigstens«, knurre ich zurück.
    Mutters Stimme bebt. »Ich war zuerst hier. Aber wenn es eine Chance gäbe, mich rauszuekeln, würde ich dir auf der Stelle helfen! «
    »Lass mich einfach in Ruhe!«, sage ich zur Wand und schabe weiter.
    Geschafft! Eigentlich möchte ich nun doch gern wissen, wen ich da gerade ausradiert habe. Eine Djuna, eine Olga, eine Mascha? Ausradieren geht schnell! Gerade noch gibt man sich Mühe zu lernen, erfüllt seine Pflicht, mit allen Konsequenzen – und von einer Sekunde auf die nächste spielt das alles keine Rolle mehr; niemand fragt, wer du warst, auf wessen Seite du gekämpft hast, was du getan hast für den Sieg und das große Heil. Ausgelöscht, ohne Bedeutung.
    Auf jeden von euch kommt es an? Gelogen!
    Auch deine Treue führt zum Sieg? Gelogen!
    Der Papi hat sich geirrt , aber dich sperren sie ein wie einen Verbrecher! Das erzählen sie einem nicht in der Hitlerjugend, sonst würde ja niemand mehr mitmachen.
    »Brandgeruch«, bemerkt Mutter matt, auch das nichts Neues. Bei ungünstigem Wind füllt sich unsere Zelle mit beißendem Qualm, der aus der Stadt herüberzieht. Dass sie deshalb unsere Tür nicht öffnen, nicht einmal auf unser verzweifeltes Klopfen antworten, wissen wir schon, und dass wir davon nicht ersticken, haben wir bei der Gelegenheit auch gleich selbst entdeckt.
    Kommt her, Amis! Kommt alle her und macht ein Ende!
    Die schlaue, weitblickende Oma Luchterhand. Kann sie da oben nicht ein Wort für uns einlegen? Fliegerangriffe sind unsere einzige Chance, aus diesem stinkenden Loch herauszukommen.
    Oder doch nicht ...? Die beiden breiten Riegel, die die Zellentür von außen versperren, werden ohne jede Vorwarnung mit einem einzigen scharfen Ruck zurückgerissen, der wie ein Pistolenschuss in den Ohren klingt. Normalerweise ist man vorbereitet, hört das Knallen der Riegel schon von den acht Zellen, die

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