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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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weiter vorne imGang liegen, auf uns zukommen: drei Schritte, knall, drei Schritte, knall, drei Schritte, knall.
    Heute also nur wir? Sofort schlägt mein Herz bis zum Hals; ich brauche die Aufseherin nur stehen zu sehen und weiß Bescheid. »Nummer zwei, raustreten!«
    »W-warum?«, stottere ich schreckensstarr, obwohl ich es seit Wochen auf mich habe zukommen sehen. Aber diese Aufseherin kenne ich nicht! Ist das Zufall? Oder bedeutet es was?
    »Mach dir keine Sorgen, Fritzi«, sagt Mutter mit fester Stimme. »Es ist wirklich halb so schlimm.«
    Mutter! Es ist, als fiele ein Schleier von mir ab – all meine Lieblosigkeiten und Bosheiten der letzten Tage, die qualvolle Enge, die Gerüche und Geräusche der anderen, die man keine Sekunde länger zu ertragen glaubte ... vergangen, dahin, aufgelöst in einer einzigen großen Furcht: geholt und nicht wieder hergebracht zu werden.
    »Geht das ein bisschen schneller?«, mault die Aufseherin.
    Mutter steht mit mir auf, hilft mir in die Schuhe und bindet sie zu, holt meine Jacke aus dem Schrank. Meine Jacke? Unausgesprochen steht es im Raum: Man weiß ja nicht, wie lange es dauert ...
    Ein Kuss noch, ein aufmunterndes Streichen über meinen Rücken und ich bin draußen, allein, und eine mir völlig fremde Frau führt mich in eine andere Richtung als sonst. Über die hallenden Eisentreppen aus dem Gebäude heraus, vorbei an einem nie gesehenen Hof und Rosenbüschen, die einen betörenden Duft verströmen. Über mir steht ein makelloser blauer Himmel.
    Nur ruhig! Jetzt gilt es also! Im richtigen Moment die richtige Karte zu ziehen ... habe ich das nicht lange genug geübt? Meine Beine sind wie Blei, meine Zunge klebt am Gaumen, aber es sind eine Menge Karten in meinem Ärmel!
    »Da geht’s lang«, sagt die Aufseherin und hält die Tür eines fremden Seitenflügels auf, und ich werfe einen letzten Blick hinauf zur Sonne, man weiß ja nicht, wie lange es dauert.
    Aus dem kleinen Raum, in dem ich allein warten muss, blickt man in die Schreibstube der Anstalt. Ich kann mich nicht entschließen, mich an den Tisch zu setzen – weiß ja auch nicht, welcher der beiden Stühle für mich und welcher für meinen Vernehmer gedacht ist –, sondern beobachte, während mein Herz Purzelbäume schlägt, durchs Fenster erst einmal die zwei gebeugten Dauerwellenköpfe zu beiden Seiten eines großen Schreibtischs. Sie studieren Papiere, reden kurz, dann sehe ich einen Arm, der sich nach einem Stempel reckt.
    Wie schnell das geht ... ein Handgriff nur, und ein Stempel auf einem Stück Papier. Was haben sie wohl gerade veranlasst – und für wen? Jemand, den ich kenne?
    Mit einem Mal werde ich ganz ruhig, ganz klar. Ein unerwarteter, nicht ganz zutreffender, aber seltsam tröstlicher Gedanke schießt mir durch den Kopf: Mich kriegt ihr nicht so schnell! Ich bin eine von Lautlitz!
    Ich setze mich an den Tisch. Wenn ich auf dem falschen Stuhl bin, sollen sie es mir sagen. Als sich die Tür öffnet und erst die Aufseherin, dann die zweite Person eintritt, lasse ich mir viel Zeit, den Kopf zu heben und zur Seite zu schauen.
    Sie steht in der Tür und rührt sich nicht. Merkwürdige Taktik. Ist nicht groß und nicht klein, weder alt noch jung, in einem grauen Kostüm, an dessen Jackenaufschlag Abzeichen prangen. Weiche, braune Locken. Flache Schuhe.
    Die Aufseherin setzt sich auf einen dritten Stuhl in der Ecke, sie hat eine Zeitung mitgebracht. Die Frau in der Tür sagt: »Klexchen« – und alles wird schwarz.
    In Oschgau konnte man beim Bootfahren auf dem See in einen Nebel geraten, der so silberweiß und dicht war, dass man nur am Plätschern des Paddels, wenn es ins Wasser eintauchte, überhaupt erkannte, dass es vorwärtsging. Wir orientierten uns durch Rufe von einem Boot zum anderen, wo jemand einen Kompass besaß.
    Der Lehrer tobte, als wir zurückkehrten. Drohte unsere Eltern zu verständigen, das Lager aufzulösen, aber natürlich geschah nichts. Der Lehrer, für einige Monate von irgendwo dienstverpflichtet, hatte nichts zu sagen. Er musste Ellen, die siebzehnjährige Ellen, um Erlaubnis fragen, wenn er uns nachmittags eine außerplanmäßige Stunde geben wollte.
    »Nein, lassen Sie, sie kommt schon zu sich ...«
    Aus den Nebelschleiern dringen Worte und Stimmen zu mir. Mit aller Macht reiße ich die Augen auf. »Kannst du aufstehen, Klexchen?«, fragt Lexi und stützt mich unterm Ellenbogen.
    Schwankend richte ich mich auf, eine Marionette, der man den Faden durchgeschnitten hat.

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