Einundzwanzigster Juli
»Entschuldige«, sagt meine Tante reuevoll, als ich wieder sitze, »ich hatte mich angemeldet, ich dachte, sie hätten es euch mitgeteilt ...«
»Gehörst du jetzt zu denen?«, frage ich schwach.
Sehe sie einen Augenblick zurückfahren vor der Ungeheuerlichkeit meiner Worte, dann antwortet sie nicht ohne Mitgefühl: »Schwer zu erkennen, nicht wahr? So viele Leute, die die Seite wechseln.«
»Setzen Sie sich an den Tisch«, befiehlt die Aufseherin. Lexi wirft ihr einen Blick zu, zögert, dann geht sie gehorsam um den Tisch herum und setzt sich mir gegenüber.
Ist das wirklich Lexi ...? Meine Gedanken stürzen durcheinander in dem gehetzten Versuch, die Situation neu einzuschätzen. Ja, natürlich ist sie es, aber was in aller Welt tut sie hier? Sie ist in größter Gefahr, wieso kann sie herumspazieren und Besuche machen?
»Ich habe eine Vereinbarung getroffen«, sagt sie so langsam, als wäge sie jedes ihrer Worte noch im Sprechen ab. »Ich arbeite weiter für das Reichsluftfahrtministerium, bilde Nachtjäger aus und führe die Geräteentwicklung fort.«
Ich starre sie an wie einen Geist. Ich merke, wie ich zu zittern beginne, kneife die Lippen zusammen, damit niemand meine Zähneklappern hört. Bestimmt ein Rest von Angst vor dem Verhör und nicht schon eine neue, viel schlimmere Befürchtung ...
»Ich mache da weiter, wo ich vor sieben Wochen aufgehört habe, darf nur unseren Namen nicht mehr benutzen. Ich tue das unter einer Bedingung, die sie akzeptiert haben.«
Das ist nicht wahr! Ich zittere jetzt so heftig, als könnte ich abschütteln, was sie sagt. Sie arbeitet nicht für die Leute, die uns einsperren! Sie arbeitet nicht weiter, als wäre nichts geschehen!
Lexi sieht mich scharf an. Wenn sie immer noch Gedanken lesen kann, liest sie: Und du verrätst sogar unseren Namen!
»Ich darf für die Familie sorgen, das ist die Bedingung«, sagt sie ruhig. »Ich darf schreiben, euch ab und zu besuchen und Pakete schicken. Dadurch kann ich mehr für euch tun, als wenn ich mit euch zusammen eingesperrt bliebe.«
Ich muss Zeit gewinnen. Zeit, zu verstehen, die richtige Karte zu finden. »Dann warst du ...«
»Hier bei euch, in einem anderen Trakt. Ich habe an meinen Auswertungen gearbeitet und ein Gesuch nach dem anderen geschrieben. Ein Regierungsrat im Polizeipräsidium hat schließlich mit seinem Leben dafür gebürgt, dass man mich zurück in meine kriegswichtige Arbeit entlässt. Als ob ich versuchen würde zu fliehen ... ohne euch!«
Das ist völlig verrückt, denke ich. Sie hat alles gewusst, sie hätte beinahe mitgemacht, und jetzt geht sie einfach zurück zu denen, die Onkel Georg getötet haben ... Onkel Yps kann nichts verraten haben, so viel steht fest, aber was wäre, wenn ...
Ein schrecklicher Gedanke drängt sich nach vorn, ein Gedanke, der eben schon da war und sich nicht länger beiseiteschieben lässt: Was wäre, wenn sie Onkel Georg und Onkel Yps nicht die Wahrheit gesagt hätte? Wenn sie ein doppeltes Spiel gespielt hätte, die ganze Zeit?
Die kluge, außergewöhnliche Lexi. Aus welchem Grund schläft sie eigentlich so schlecht?
»Glaubst du mir nicht, Klexchen?«, fragt sie, und es klingt weder gekränkt noch ärgerlich, sondern völlig verblüfft. Und schon hat sie es geschafft, ich werde unsicher.
»Ich würde schon gern ...!«, antworte ich viel ehrlicher, als ich beabsichtigt hatte.
Lexi lehnt sich zurück und schmunzelt, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass sie diejenige sein könnte, die ich kenne. »Ich hätte es mir denken müssen!«, meint sie. »Die anderen haben mir sofort geglaubt, aber dir muss man sich erst einmal beweisen!«
»Die anderen?«
»Max, Nelly, Ina, Omama, Josi ...«, zählt sie in einem Atemzug auf, bevor die Aufseherin mit einem »Nun aber! Keine Namen!« dazwischen fährt.
»Entschuldigung!« Lexi hebt abwehrend beide Hände. »Kommt nicht wieder vor!«
»Ich muss abbrechen, wenn Sie sich nicht an die Abmachungen halten!« Die Aufseherin zieht vorwurfsvoll die Nase hoch. »Abbrechen und einen Bericht schreiben!«
»Tut mir leid. Ich passe jetzt auf.«
Einige Sekunden vergehen. Die noch fehlenden Namen sinken auf uns herab wie Zentnersteine. Lexi nimmt meine Hand. »Wie geht es dir und Almut, Klexchen?«
»Wir gehen uns auf die Nerven.«
Sie lacht, eine Spur zu laut. »Erzähl!«
Diesmal verstehe ich sofort. »Nicht dass ich allein eingesperrt sein möchte«, sprudele ich los, »aber die Zelle ist einfach zu eng!« Meine Kopfhaut
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