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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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beginnt vor Aufregung zu prickeln, während Lexi mir mit dem Finger in die Handfläche schreibt. »Den ganzen Tag turnt und singt und näht sie, man hat keinen Moment Ruhe. Und ich? Ich tue eigentlich nichts. Ich bin nur so fies und gemein, wie ich kann!«
    »Almut hat ganz Recht mit der Gymnastik.« Lexi sieht mich ernst an. »Man muss in Form bleiben, man weiß nicht, wofür!«
    Ich versuche nicht auf meine Hand zu starren. Ein E erkenne ich, ein E wie Eckhardt, und ein T. Aber wieso T ...?
    »Ich kann dir Übungen zeigen, wenn du willst«, sagt Lexi, ihre Augen glänzen von Tränen. Und im selben Moment fühle ich das zweite Zeichen wie eingebrannt in meiner Hand.
    Kein T. Ein Kreuz.
    Ich ziehe die Hand weg. »Übungen auf einem Stuhl«, sagt sie kaum hörbar. »Viel unterhaltsamer als Liegestütz.«
    Meine Lippen formen das Wort: Vater .
    »Ich weiß es noch nicht«, flüstert Lexi.
    »Sprechen Sie verständlich!«, bellt die Aufseherin. Langsam wird sie wirklich böse.
    Lexi beugt sich zur Seite – um ihre Tränen zu verbergen, aber auch um der Tasche willen, die sie mitgebracht hat und die ich erst jetzt neben dem Tisch stehen sehe. »Hier ist ein Pullover für Almut, ich weiß von Ina, dass sie einen braucht. Und für dich besorge ich zum nächsten Mal auch etwas. Es wird Herbst, meine Bluse wird dir bald zu kalt werden.«
    Verlegen schaue ich an mir herab, und beim Aufblicken in Lexis mühsam lächelndes Gesicht. »Wieder Freunde?«, fragt sie. »Immer!«, platze ich beinahe heraus.
    Wie konnte ich bloß zweifeln? Ich weiß, wie sehr sie an Georg und Eckhardt hing, an all den anderen ... Omama, der nur ein Sohn geblieben ist. Max, der seine Brüder verloren hat. Ina, der armen Ina, und Konstantin. Es würgt in meiner Kehle, aber nur nicht heulen, nicht hier! Nicht vor dieser Aufseherin, die dazu übergegangen ist, uns misstrauisch über die Zeitung hinweg anzustarren.
    Lexi packt weiter aus, ich sehe zu. Zu denken, dass ich es sein müsste, die sie nun alle zu trösten und zu versorgen hat ...
    Am Ende liegen die Schatzinsel und ein Kartenspiel auf dem Tisch, Sojamehlkekse, Pellkartoffeln und eine verschließbare Dose mit duftenden Bratenstücken an kleinen Knochen. Lexi, derSchrecken der Flugplatzkaninchen. Wieder ganz gefasst, teilt sie mir verheißungsvoll mit, dass demnächst die Pilzsaison beginne.
    »Meine warmen Sachen sind zu Hause im Schrank, könntest du vorbeigehen?«
    Sie schüttelt bedauernd den Kopf. »Ich fürchte, in eurer Wohnung haben sich andere breit gemacht. Ausgebombte. Zwei Familien, sie haben mich nicht hineingelassen.«
    »In unserer Wohnung? Und wir?«
    Lexi antwortet nicht. Ich weiß es ja auch so. Wir besitzen nichts mehr, nichts außer den paar Kleidern, die wir bei uns tragen. Man vergisst es nur manchmal.
    Die Aufseherin erhebt sich und faltet die Zeitung zusammen. »Zwei Minuten!«, verkündet sie und baut sich schon einmal neben der Tür auf.
    Zwei Minuten? Wir sehen uns an. In zwei Minuten könnte man noch manches erzählen, zumindest damit anfangen ... aber es müsste das Wichtigste sein.
    »Vergiss nicht«, sagt sie, »alles wird gut.«
    »Vergiss nicht«, antworte ich, »wir sprechen uns nach dem Krieg.«
    Die Aufseherin beobachtet scharf, wie wir aufstehen, uns umarmen. Was Lexi mir dabei ins Ohr flüstert, hört sie nicht: »Omama Hausarrest! Kinder NSV!«
    Die letzte wichtige Nachricht. »Bis bald, Klexchen«, sagt Lexi in der Tür. »Sag Almut, beim nächsten Mal ist sie an der Reihe. Nicht, dass ich auch sie zu Tode erschrecke!«
    Ich bin wieder allein. Punkt vier ist es. In der Schreibstube vor dem Fenster des Besucherzimmers machen sie Kaffeepause. Zwei weitere Frauen haben sich eingefunden und zwei weitere Stühle an den Tisch gerückt; in ihrer Mitte, zwischen Stapeln Papier, Schachteln mit Stiften und Gestellen mit Stempeln, steht jetzt ein großer Teller Gebäck.
     
    Meine Mutter! Ich hatte mir gedacht, dass sie außer sich sein würde, allerdings aus einem anderen Grund. »Ich hatte keine Hoffnung mehr für Eckhardt«, bekannte sie nach dem ersten betroffenen Schweigen.
    Das war vor fünf Minuten, und jetzt läuft sie unsere zwei mal vier Schritte auf und ab wie ein Tier im Käfig. Schlägt sogar gegen die Wand vor Zorn und Enttäuschung.
    »Lexi hat gesagt, du bist beim nächsten Mal dran!«, versuche ich sie zu beruhigen.
    Zwecklos. »Wie kommt sie dazu, dich als Erste zu besuchen?«, ruft Mutter. »Sie hätte zuerst mich besuchen und dann fragen müssen,

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