Einundzwanzigster Juli
schwebt wie ein Schatten über meiner Freude, kaum dass sich die Zellentür für uns geöffnet hat. Mutter bekommt ein hartes, böses Gesicht, wenn sie mir ausmalt, wie sie sich die Wohnung zurückholen wird – und sie beschwört es seit Wochen. Ich wünschte, das Keifen, Weinen und Schimpfen, das unser erster Nachmittag in Freiheit erwarten lässt, läge schon hinter uns, und das Wiedersehen mit den Nachbarn auch. Bisher waren wir Frau Bredemer und Fritzi aus dem Erdgeschoss, jetzt sind wir die Leute aus der Familie, die versucht hat, den Führer in die Luft zu sprengen. Vielleicht, sagt Mutter, gehen wir die ersten Tage bei Alarm lieber in den öffentlichen Bunker.
Und dennoch fühlt die Luft in meinen Lungen sich anders an als in den Stunden, in denen wir zum Hofgang vors Haus durften, und der Boden fühlt sich anders an, und meine Schritte auf dem Kies und das Gewicht meines Körpers.
Ein letztes Mal durchqueren wir den Zellentrakt und gelangen über die hallenden Eisentreppen ins Untergeschoss. Rollwagen mit Suppenkesseln werden vorbeigeschoben; es ist Mittagszeit und vermutlich entlassen sie uns gerade jetzt, um unser Essen zu sparen. Im Verwaltungstrakt setzt man uns erst einmal stundenlang auf ein Flurbänkchen, einem müden, unwirschen Mann gegenüber, der nichts anderes zu tun hat, als uns ungeniert anzustarren.
Es ist kein anerkennender Blick. Neun Wochen habe ich mich nicht im Spiegel gesehen, und selbst wenn der allmähliche Verfall der anderen gewisse Rückschlüsse zuließ, habe ich doch tunlichst vermieden, mir mein eigenes Erscheinungsbild vorzustellen. Im Blick des Mannes sehe ich Mutter und mich nun umso deutlicher: zwei bleiche, hungrige, von Wanzen zerbissene Gestalten mit langen strähnigen Haaren.
Sie sollten die Häftlinge nur im Dunkeln entlassen! Hier sitzen und sich anstarren lassen zu müssen, ist so beschämend, dass icham liebsten eine Decke über mich werfen würde. Endlich erscheint eine ältere, nach Suppe riechende Frau, wünscht dem Mann »Mahlzeit!« und macht sich daran, unsere Papiere zu holen, zwei Bögen auszufüllen und je einen Stempel daraufzudrücken. Zu meinem Befremden steht der Mann auf und sieht dabei zu.
Warum er dies tut, klärt sich jedoch sogleich: Er ist derjenige, der uns nach draußen begleiten soll. Er tut dies ohne ein Wort, geht einfach vor uns her zum noch verschlossenen Tor, und als der Pförtner die Hand ausstreckt und nach den »Überstellungspapieren« fragt, zeigt er ihm die beiden gestempelten Bögen.
Ich spüre, noch bevor ich selbst verstehe, wie durch meine Mutter ein Ruck fährt. »Moment!«, sagt sie, indem sie rasch vortritt, »darf ich mal sehen? Das müsste ein Entlassungsschein sein. Ist es womöglich das falsche Papier?«
»Verrückt geworden? Finger weg!« Der unwirsche Mann gibt ihr einen Stoß.
»Es müsste aber ein Entlassungsschein sein«, beharrt Mutter verzweifelt. »Bitte lassen Sie uns rasch zurückgehen und das aufklären!«
»Sieh mal an! Jetzt wollen sie sogar schon zurück!«, sagt der Pförtner und lacht.
Meine Mutter redet noch vom Entlassungsschein, als sie an den Armen gepackt und ohne Federlesens in die mittlere Zelle einer grünen Minna gestopft wird. Durch die dünne Wand zwischen uns höre ich ihre hohe, entsetzte Stimme, sie will es einfach nicht begreifen.
Flaustrophobie? Raustrophobie? Das Wort für Platzangst fällt mir nicht mehr ein, aber seine Bedeutung erschließt sich augenblicklich, sobald die Zellentür der grünen Minna hinter mir zufällt. Ich bin auf ein niedriges Holzbänkchen gequetscht, die Knie stoßen gegen die Tür, selbst die Arme müssen im Sitzen dicht am Körper bleiben. Immerhin hat die kleine Transportzelle einen Luftschlitz,in dessen Windzug man die Nase halten kann, und unter den entsprechenden Verrenkungen erhascht man durch den Schlitz sogar einen Blick nach draußen.
Und was für einen! Eine eigentümliche, mitleidlose Befriedigung erfüllt mich, während wir uns durch die Straßen schieben: Es ist ja alles noch viel schlimmer geworden ...!
Nicht, dass es mich überrascht – keine Nacht und fast kein Tag der letzten Wochen ist ohne Fliegerangriff vergangen. Nun endlich werden wir rumpelnd und stoßend durch die Bilder gefahren, die man uns wochenlang vorenthalten hat: eingestürzte Mauern, verkohlte Bäume, Straßenbahnschienen, die sich aus dem Asphalt biegen wie die Kufen eines Schlittens, und notdürftig zusammengezimmerte Hütten, wo immer sich eine Lücke im Trümmerfeld
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