Einundzwanzigster Juli
auftut. Die Straße ist in Bewegung; ein nicht enden wollender, erschöpfter Ameisenzug schiebt sich in beide Richtungen, schleppt Rucksäcke, Koffer, Kleinkinder, Hausrat auf der Suche nach einem unbesetzten Fleckchen Erde.
Flüchtlinge in der eigenen Stadt – geht es uns wirklich schlechter als denen da draußen? Wir haben wenigstens ein Ziel, auch wenn wir es selbst noch nicht kennen. Überstellung heißt nichts anderes, als dass sie uns verlegen. Ein neues Gefängnis, mehr nicht! Dass die Familie des Hauptschuldigen länger eingesperrt bleibt als alle anderen, hätte uns eigentlich klar sein müssen.
Vorsichtig klopfe ich an die Wand zwischen Mutter und mir. »Ich bin nebenan!«
Sie antwortet nicht, aber von etwas weiter entfernt höre ich Inas Stimme: »Fritzi? Almut? Gott sei Dank, wenigstens sind wir noch zusammen!« Sofort bellt der Posten, der mit seiner Pistole im Gang vor den Zellen sitzt, wir sollten gefälligst »Maul halten«.
Nach einer halben Stunde stockender Fahrt hält die Minna plötzlich, fährt rückwärts durch ein Tor und bleibt vor einem Gebäude stehen, neben dem Polizeiwagen parken. Ich höre Rumpeln, der ganze Wagen kommt in Bewegung, als weitere Personen in dieGroßkabine direkt neben meiner Einzelzelle steigen. Zahlreiche Gepäckstücke werden in den schmalen Gang zu unserem gestapelt, der Posten nimmt auf den Koffern Platz.
Das Murmeln von Männerstimmen dringt durch die Wand, während wir durchs Tor hinausrollen. Und schon kommt das erste Klopfzeichen! »Hallo, mit wem haben wir das Vergnügen?«, ruft jemand munter.
»Von Lautlitz, drei Personen«, melde ich mit klopfendem Herzen.
»Na wunderbar, da haben wir hier auch zwei!«, kommt es sofort zurück, und bevor der Posten drohend an die Wand hämmert, höre ich eine überraschte Stimme: »Almut, seid ihr das?«
»Max! Max! « Mir wird schwindlig. Hände, Wange, Ohr, mein ganzer Oberkörper presst sich an die Wand in fieberhaftem Lauschen. »Hier ist Fritzi! «
Antwort bekomme ich nicht mehr, nur ein weiteres zartes Klopfen, aber das reicht, für den Rest der Fahrt schwimme ich auf einer Welle seliger Erleichterung. Und als wir endlich an einem lärmenden, überfüllten Bahnhof aussteigen, sehe ich nicht das Gedränge, nicht das rücksichtslose Schubsen und Schimpfen, unter dem das Volk durch Türen und Fenster in den noch kaum eingefahrenen Zug drängt. Ich sehe meinen höchst lebendigen Onkel seine langen Beine aus der Minna falten, sich übertrieben strecken und spöttisch ein Stäubchen von der ramponierten Uniform pflücken, und es ist der schönste Anblick seit meinem Flug über das Havelland.
Der andere von Lautlitz ist Onkel Teddy, ein älterer Vetter von Mutter, der ein Gut nahe Schloss Geppingen besitzt und wie Max eine Wehrmachtsuniform trägt. Er hat eine Brille, zerzaustes graues Haar und einen müden, gutmütigen Gesichtsausdruck.
»Lieber Gott«, murmelt Mutter. »Die Geppinger haben sie also auch!«
Einander begrüßen dürfen wir selbstverständlich nicht. Sogleich trennen uns zwei Wachen von den anderen Männern aus demTransport, eskortieren uns durch eine murrend beiseitetretende Menge und schieben uns in einen Zug, wo mit wenigen scharfen Worten das erstbeste Abteil für uns geräumt wird. Drei totenblasse Jungen in Uniform, zwei Frauen mit Kindern und viel Gepäck, sie alle müssen trotz Flehens und Schimpfens aufstehen und Platz machen.
Wir setzen uns stumm, Onkel Teddy und Max heben die Koffer in die Gepäckablage oder legen, was nicht mehr daraufpasst, auf den Boden zwischen die Sitze. Eigentlich müssten wir uns entschuldigen, dass wir sitzen dürfen und die Frauen mit ihren kleinen Kindern nicht, die nun im Gang zwischen Koffern, Körben und Kisten eingeklemmt stehen.
Aber uns hat es die Sprache verschlagen, seit wir entdeckt haben, wer uns am Bahnhof in Empfang genommen hat. Bis vor wenigen Minuten waren wir gewöhnliche Gefangene – ab sofort stehen wir unter Bewachung der SS.
Lexis liebster Schatz sitzt mir gegenüber, die Beine lässig über den am Boden liegenden Koffern gekreuzt, und liest ein zerfleddertes Bändchen auf Italienisch. Ich weiß nicht, was schwerer zu glauben ist: die fast unverschämt unbekümmerte Erscheinung, die Max zur Schau stellt, oder die Tatsache, dass wir mit zwei Männern unserer Familie reisen. All die furchtbaren Nachrichten der letzten Wochen haben in mir ein Gefühl hinterlassen, als ob niemand mehr übrig sein dürfte.
Ich wünschte, er würde aufblicken
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