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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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und mit mir reden; zwei, drei Worte würden schon reichen. Wenn er nur wüsste, wie vertraut er mir wieder ist! Ich frage mich, wo er eingesperrt war – er sieht erstaunlich gut aus, und die ergrauten Schläfen geben ihm etwas Vertrauenerweckendes, das er vor zwei Jahren noch nicht hatte. Lexi kann nicht auf den Gedanken gekommen sein, dass wir alle miteinander verlegt werden würden; niemals hätte sie sonst um Entlassung ersucht.
    Sie könnte hier sein, bei ihm, bei uns! Mein Herz zieht sich zusammen bei der Vorstellung, sie könnten mir in diesem Augenblick zu zweit gegenübersitzen, und ich wende schnell die Augen ab, um Max nicht mehr sehen zu müssen.
    Die SS-Wachen haben die Sitze auf der Gangseite des Abteils eingenommen, eine Mauer zwischen uns und dem Volk. Eine der Mütter, die wir von ihrem Platz vertrieben haben, hält ihr Baby im Arm und sein Fuß berührt beinahe die Schulter des neben ihr sitzenden Mannes, aber er denkt nicht daran, für sie aufzustehen. Die drei Jungen in den zu großen Uniformen starren ins Leere, eine Mischung aus Wut und Hoffnungslosigkeit im Gesicht.
    An die Front gehen sie also!, erkenne ich mit derselben kalten Gleichgültigkeit, die mich schon bei der Fahrt durch die Stadt befallen hat.
    »Ein Verbrechen ... ! «, flüstert meine Mutter. »Noch halbe Kinder! «
    Ohne die Stimme zu senken oder von seinem Buch aufzuschauen, bemerkt Max: »Führers letztes Aufgebot.«
    Ich erschrecke, aber die SS beachtet ihn nicht. Was wir sagen, scheint ohne jede Bedeutung für ihren Befehl oder die Pläne zu sein, die man mit uns hat.
    Der Zug schiebt sich schwerfällig voran, passiert karge Felder, auf denen Frauen und Kinder liegen gebliebene Kartoffeln stoppeln, Leiterwagen, in denen jemand eine kleine Ausbeute von irgendetwas über die Chaussee zieht. Andere zerhacken völlig unbehelligt die Straßenbäume und springen nur beiseite, um Kettenfahrzeuge und Militärlastwagen vorbeizulassen, die in großer Hast in die immer gleiche Richtung rollen.
    Wo mögen wir sein? Ist die Front schon so nah? An jedem Bahnhof steigen Soldaten zu, selbst draußen auf den Trittbrettern stehen sie und halten sich während der Fahrt in der offenen Tür fest. Zurückzubleiben, weil der Zug besetzt ist ... auf diese Idee kommt keiner von ihnen. Ein gebrechliches altes Paar mit Rucksack, dasnoch einen Stehplatz im Inneren unseres Waggons ergattert hatte, zwingen sie sogar wieder auszusteigen.
    Protest regt sich. »Lasst die Leute wieder rein!«, schimpft es gedämpft.
    »Marschbefehl ist Marschbefehl!«, schreit ein Soldat mit junger, überschnappender Stimme und niemand wagt, ihm noch etwas zu entgegnen, aber das Schweigen, das sich über unseren Waggon legt, knistert vor beiderseitiger Wut.
    »Sieh gut hin«, sagt Max plötzlich zu mir. »Sieh gut hin und merk es dir.«
    Seine Stimme klingt schleppend und traurig. Na und?, würde ich am liebsten antworten. Was kümmert es mich?
    Aber im selben Moment verstehe ich, und schäme mich, dass ich so lange gebraucht habe. Onkel Georg und Onkel Eckhardt hatten das Töten beenden wollen. Nun ist jedes weitere Leben, das der Krieg verschlingt, ein Zeugnis ihres Scheiterns.
    Wir stehen mitten auf der Strecke, weil die Stadt, in die wir einfahren, unter Beschuss liegt; es wird kalt und dunkel, während wir warten, und der rote Widerschein des Angriffs spiegelt sich in den Gesichtern der Mitpassagiere. Wir steigen aus, werden in eine mit liegenden und sitzenden Leibern vollgestopfte Halle gebracht und kauern bis zum frühen Morgen frierend auf dem blanken Boden. Nur etwas lauwarmen Tee gibt man uns, den Frauen in Rotkreuzuniform am Bahnhof verteilen.
    Wir steigen in einen offenen Güterzug und sitzen im Stroh, der Himmel über uns öffnet sich und es beginnt zu regnen. Und der Tod meiner Onkel und alles, was man uns abverlangt, ergibt nicht den geringsten Sinn.
     
    »Tut, was ihr wollt«, ruft Mutter, »aber aus dieser Wanne steige ich nie wieder aus!«
    Ratlos lege ich mein Ohr an die Tür und höre es plätschern, als sie einen weiteren Schwall heißes Wasser einlässt. »Wir anderenwollen auch noch baden!«, beschwert sich die Frau in meinem Rücken, die ihr Handtuch schon mitgebracht hat. »Und zwar vor dem Abendessen!«
    Sie heißt Kuhn und ist mit ihrem Mann vor uns angekommen, aber die Wanne hat Mutter zuerst entdeckt. Sollen sie es unter sich ausmachen! Im Paradies ankommen und sich um eine Badewanne streiten – ohne mich!
    Ich gehe zurück ins Zimmer und reiße

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