Einundzwanzigster Juli
noch einmal das Fenster auf, wie ich es seit unserer Ankunft mindestens ein halbes Dutzend Mal getan habe; ich atme den würzigen Herbstwald so tief ein, dass es mir fast die Brust sprengt. Hinter unserem Fenster rauscht der Wind durch eine hohe Baumgruppe, Tannenspitzen verschwinden im Nebel. Das Hotel Hindenburgbaude liegt weit ab vom nächsten Ort an einem Berghang: ein großzügiges, zweistöckiges Haus mit mehreren Giebeln und Winkeln, gemütlich knarrenden Holzdielen und einem schon fast winterlichen Duft nach Tannennadeln und Obstler.
In Niederschlesien sind wir, habe ich auf der kurzen Busfahrt vom Bahnhof Bad Reinerz aufgeschnappt. Vor dem Krieg kamen die Prager und Breslauer zum Wandern her, jetzt hängt ein großes Schild mit der Aufschrift Geschlossen im Hoteleingang. Und trotzdem waren bei unserer Ankunft Kaffee und Kuchen für uns vorbereitet und das Zimmer so blitzsauber und warm, dass wir uns noch gar nicht trauten den Koffer auszupacken aus Angst, dies könne entweder ein Irrtum sein oder irgendein grausamer Scherz, der uns um die Ohren fliegt, sobald wir beginnen, daran zu glauben.
Ich werfe einen Blick zurück ins Zimmer, um mich zu vergewissern, dass alles noch da ist. Zwei unberührte weiße Federbetten, zwei Nachttischchen mit Leselampen, ein Kleiderschrank. Wir haben ein eigenes Waschbecken und aus der Leitung kommt warmes Wasser!
»Dich kenne ich!«, sagt plötzlich eine Stimme. »Du bist Philippa, die Tochter von Almut.«
Ich beuge mich wieder vor. Wenige Meter zu meiner Linken lehnt ein Junge am offenen Fenster. Trachtenjacke, braunes, über die Seite gekämmtes Haar, freundliches, neugieriges Gesicht.
»Julius?«, frage ich unsicher. Er sieht aus wie einer meiner Vettern, aber es ist Jahre her, seit ich ihn zuletzt gesehen habe. Schloss Walcheren haben sie also auch! , würde Mutter sagen.
»Wann seid ihr angekommen?«, frage ich, als er nickt.
»Vorgestern. Ganz schön verrückt, findest du nicht? Ein Hotel!« Lässig schlingt Julius ein Bein übers Fensterbrett, lehnt im Rahmen und schaut zu mir herüber. »Was soll das?«
»Die Frau am Empfang hat zu Mutter gesagt, an uns sei etwas gutzumachen!«
»Das war die Inhaberin, und das hat sie uns auch erzählt, aber glaubst du das?«
»Ich würde schon gern«, sage ich, »zumindest für ein paar Tage. Also sei so gut und lass mich einfach den Blick hier genießen, ja?« Julius lacht. »Warst du auch eingesperrt?«, frage ich.
»Klar. Zuerst sechs Wochen allein im Gefängnis in Augsburg, später in Nördlingen im Oberamtsgericht. Von da an wurde es ständig besser. Zuletzt hatten wir den Schlüssel zu unserem Zimmer, die Frau Oberamtsrichter machte uns Kaiserschmarrn und Kompott und ihr Mann führte uns nachts heimlich zu Spaziergängen aus. Aber hier ...? Beunruhigend, sage ich dir. Keine Steigerung mehr möglich. Was kommt wohl als Nächstes?«
»Zu Hause«, schlage ich vor.
»Ach!«, seufzt Julius halb traurig, halb theatralisch.
»Bist du mit deinen Eltern hier?«
»Nein!« Schlagartig wird er ernst. »Sie sind beide krank und waren im Sanatorium und wir hofften, man hätte wenigstens sie in Ruhe gelassen, aber in Nördlingen bekamen wir einen Brief von Papa aus dem Gefängnis Stadelheim. Meine Schwester Nanni ist mit mir hier, aber ziemlich aufgelöst, denn von allen Leuten auf der Welt mussten heute ausgerechnet die Kuhns auftauchen ...«
»Wer sind die Kuhns? Die Frau streitet gerade mit meiner Mutter um die Badewanne.«
»Die Kuhns«, sagt Julius wütend, »sind Nannis Beinahe-Schwiegereltern. Letztes Jahr haben sie ihren Sohn gezwungen, die Verlobung zu lösen – aus keinem besseren Grund als dem, dass wir Katholiken sind und Nanni nicht evangelisch hätte heiraten dürfen! Und nun sind wir ausgerechnet mit denen zusammen eingepfercht.«
»Aber warum sind die Kuhns verhaftet worden?«
»Ihr Sohn, Nannis Verlobter, ist zu den Russen übergelaufen, um der Verhaftung zu entgehen«, erzählt Julius. »So stand es zumindest in der Zeitung. Er war Major im Generalstab, ein guter Freund von Onkel Georg, und soll den Sprengstoff besorgt haben.«
»Arme Nanni«, sage ich, um ihm eine Freude zu machen.
»Die anderen aus Walcheren sind leider noch nicht aufgetaucht. Opa soll in Würzburg im Gefängnis sein, mein Bruder Markus war zu Aufräumarbeiten an seiner Universität eingesetzt. Das war gleich nach dem Attentat, seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.«
Attentat ...! Es ist das erste Mal, dass ich dieses Wort
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