Einundzwanzigster Juli
armen Nanni an, wie unangenehm ihr der Aufwand ist, der ihretwegen betrieben werden muss, aber zum Protestieren ist sie bereits zu krank.
Akribisch kontrollieren wir in den nächsten Tagen unsere Zungen nach dem verräterischen Belag, gucken uns gegenseitig in den Hals und versichern einander erleichtert, dass nicht das Geringste zu erkennen sei. Aber was im Essen zu uns kommt, den verdreckten Erbsen und schwarz verfaulten Kartoffeln, die in der Suppe schwimmen – das können wir nicht beeinflussen. Drei Tage, nachdem Nanni sich zu Bett legte, hat die halbe Baracke die Ruhr.
Unter elenden Krämpfen krümme ich mich auf der Toilette und spüre das Leben aus mir herausfließen. Zum Zimmer muss ich auf allen vieren zurückkriechen und versuche gar nicht erst, ins Etagenbett zu klettern. Mit letzter Kraft falle ich in Nannis freies unteres Bett.
»Wie lange kann ein Mensch überdauern, der das bisschen, was er zu essen bekommt, nicht bei sich behält?«, krächze ich Ina zu.
Sie antwortet nicht. Ich versuche mich aufzusetzen. Ina hat die Augen geschlossen und atmet flach, rote Flecken bedecken ihr Gesicht und ihren Hals.
Na wunderbar, denke ich verzagt. Rote Flecken haben wir jetzt also auch!
Meine Hüftknochen habe ich Spitzbergen getauft. Im Liegen muss ich ständig danach tasten; jedes Mal fürchte ich, sie wären womöglich schon dabei, sich durch die Haut zu bohren. Weh genug tun sie, und die Haut darüber fühlt sich an wie Papier. Bestimmt habe ich es durch mein häufiges Drüberstreichen noch schlimmer gemacht! Haut schabt auf Knochen ... man muss keine große Fantasie entwickeln, um vorherzusehen, dass das nicht gut ausgehen kann.
Wächst es wieder zu, wenn ich es in Ruhe lasse? Kann ich es vor den anderen verbergen oder wird mich bald der Geruch faulenden, offenen Fleisches verraten? Ich blinke eine Träne weg. Ein abstoßender, stinkender Tod. Das habe ich nicht verdient, Piotr!
Die Arme fest über der Decke verschränkt, starre ich gegen das Gitter des Bettes über mir. Fey ist nicht da, sie ist als eine der wenigen noch auf den Beinen und kümmert sich um Nanni. Wie viele von uns sind überhaupt noch in der Lage, die anfallenden Arbeiten zu tun? Ich höre die Vordertür zuschlagen, kurz darauf das Geräusch des Holzspaltens vor dem Fenster und – fast lauter noch – die quälenden Pausen zwischen den Schlägen. Von Tag zu Tag braucht Max länger für unsere tägliche Fuhre Holz; erschrocken höre ich, dass er jetzt mehrmals schlägt, um ein einziges Scheit zu spalten.
Sorgen muss er sich auch wieder machen. Alle zwei Wochen dürfen wir Briefe schreiben und haben das auch gleich nach der Ankunft eifrig getan, aber die Lebensmittel, die daraufhin eintrafen, waren schnell verbraucht und seitdem kam nichts mehr. Es sieht Lexi nicht ähnlich, uns zu vernachlässigen, und ich ahne, was Max sich jetzt vorstellt. Luftangriffe, Tieffliegerbeschuss ihresFlugzeugs, ein Unfall bei den Sturzversuchen ... die Bandbreite schlimmstmöglicher Ereignisse ist in ihrem Fall so beträchtlich, dass ich augenblicklich aufhören muss, daran zu denken. Inständig bete ich, dass die Sendungen an uns lediglich in der Küche der Lagerkommandantur landen.
Mutter lässt sich nicht blicken. Es habe sie ebenfalls erwischt, berichtet Fey.
Irgendwo im Flur höre ich leise Stimmen. Tante Sofie? Tante Ilselotte? Seltsam, so abseits allen Geschehens zu sein. Seltsam, zu denken, dass das Leben draußen ganz genauso weiterginge, wenn ich nicht mehr wäre!
Ein tröstlicher Gedanke ist es nicht, immerhin. Ein Fünkchen Auflehnung ist noch da. Vielleicht sollte ich etwas weniger an Spitzbergen denken und etwas mehr an all meine unerledigten Dinge: Vater wiedersehen und so vieles lernen und Wir sprechen uns nach dem Krieg .
Aber das sind große Pläne, und allzu weit entfernt. Etwas bescheidener klingt es so: Fey und Julius basteln an einer Weihnachtskrippe, die würde ich schon gern noch sehen.
Wo in aller Welt haben wir das Bäumchen her? Ich kann meine Augen gar nicht abwenden. Es ist klein und ein wenig krumm, macht nicht viel her und scheint das zu wissen, so tapfer, wie es die Spitzen seiner dünnen Äste in die Höhe reckt. Es ist der würdevollste Weihnachtsbaum, den ich je gesehen habe, und es gibt nur eine, die ihn uns geschickt haben könnte.
Alles ist gut! Ihr ist nichts passiert, sie hat uns einen Baum geschickt!
»Ach, Fritzi«, sagt Max, »glaubst du wirklich, man kann in diesen Tagen einen Weihnachtsbaum von Berlin
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