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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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in ein KZ im Osten schicken?«
    »Glaubst du wirklich«, gebe ich kühl zurück, »der Baum sei ein Geschenk der SS?«
    Er muss lächeln. »Schön, dass es dir wieder so gut geht«, meint er nachsichtig.
    Ich hatte es bereits geahnt: Die anderen über eine Woche nicht zu sehen bedeutete, sich auf eine gewisse Verschlimmerung gefasst zu machen. Trotzdem kann ich kaum verbergen, wie sehr mich der Anblick unserer heruntergekommenen kleinen Schar erschreckt. Ich blicke in erschöpfte Gesichter, die nur noch aus Augen zu bestehen scheinen, sehe abgemagerte Schultern und Arme, an denen Kleidung schlaff herabhängt. Als wäre der dauernde Hunger nicht verheerend genug, müssen uns nun auch noch Krankheiten erwischen!
    Und dennoch sind alle gekommen. Alle bis auf Nanni und Ina, denen es noch nicht besser geht, haben sich so fein gemacht wie irgend möglich, es gibt einen Baum, in dem Sterne aus Stanniolpapier hängen, eine Krippe mit aus Pappe geschnittenen Figuren, einen kleinen Teller Plätzchen. Kerzen stehen vor der Krippe, auf den Tischen und im Fenster und tauchen den Raum in warmes, festliches Licht.
    Die sechste Kriegsweihnacht! Julius und Markus lesen die Weihnachtsgeschichte, Onkel Teddy spricht über die Heilige Familie, die Hunger und Kälte kannte wie wir, die ihr Kind in einem schmutzigen Stall zur Welt bringen und eine beschwerliche, gefahrvolle Flucht antreten musste, um sein Leben zu retten.
    Ein Kloß sitzt mir in der Kehle. Nelly! Wo mag sie jetzt sein, wie mag es ihr gehen? Ist sie allein? Ist ihr Jüngstes vielleicht schon auf der Welt?
    Die Posten draußen auf den Türmen sehen die Lichter im Fenster funkeln, durch die dünnen Wände der Baracke können sie uns Lieder singen hören. Aber ahnen sie, was wir zu feiern haben? Habe ich es im Vorjahr in Oschgau geahnt? Es gab selbst gebastelte Geschenke und reichlich zu essen, Spiele und gegenseitige Besuche und am zweiten Feiertag ein großes gemeinsames Fest der Hitlerjugend, bei dem Ellen uns die Fülle deutschen Winterbrauchtumserschloss. Der immergrüne Baum, der Weihnachtsstern, die Äpfel und Nüsse.
    Aber Weihnachten wird erst jetzt, wo ich verstehe. Gott wird Mensch und teilt unser Leid, sagt Onkel Teddy, und wenn wir fallen, fallen wir in seine Hände.
     
    Es ist Tante Adele, die das Wort aufschnappt, denn sie kann sich mit den russischen Häftlingen verständigen, die uns Holz bringen. Im Lager kursiert ein Gerücht über uns. Wir seien Geiseln, heißt es, und Himmler, der im Sommer noch sämtliche Träger des Namens von Lautlitz auslöschen wollte, habe den Befehl gegeben, dass wir unter allen Umständen am Leben zu bleiben hätten. Dasselbe gelte für eine Gruppe aus Skandinavien – die fremden Stimmen hinter unserem Zaun, die wir manchmal hören, obwohl nach meinem anfänglichen Erlebnis niemand mehr wagt, einen Schritt näher zu treten.
    Geiseln! Nach Sippenhäftling, Ehrenhäftling und Sonderhäftling nun also wieder etwas Neues. Ich bin skeptisch, ob der ständige Wechsel unserer Bezeichnung zu irgendeiner Veränderung unserer Lage führt – wenn Himmler wollte, dass wir am Leben bleiben, würde er für ausreichend Nahrung und Medikamente sorgen! Aber wir bekommen nach wie vor nur die Spritzen für Onkel Jasper und müssen sehen, wie wir zurechtkommen. Nanni fühlt sich etwas wohler, Ina ist kaum noch ansprechbar, Mutter hat sich nach wenigen Tagen der Besserung erneut mit hohem Fieber hingelegt, Anna und Tante Ilselotte ebenso.
    Geiseln! Auf die meisten unserer Gruppe wirkt die Nachricht augenblicklich belebend, obwohl niemand so recht weiß, was man mit uns überhaupt bezwecken könnte. Sicher ist bloß, dass Geiseln nur lebendig von Wert sind und dass, wenn Himmler tatsächlich einen solchen Befehl ausgegeben hat, bei der Lagerleitung allergrößte Nervosität herrschen muss angesichts der vielen Krankheitsfälle in unserer Baracke.
    »Wenn das Gerücht stimmt«, meint Dr. Goerdeler, »dann werden sie sich schnell etwas einfallen lassen müssen. Wir haben eine Todkranke unter uns, das habe ich den Sturmbannführern heute Morgen noch gesagt.«
    Eine Todkranke! Das Wort, nüchtern und direkt, wie es plötzlich im Raum steht, fährt mir ins Herz, und mehr noch: Am stummen Nicken der anderen, die sich im Aufenthaltsraum versammelt haben – Max, Onkel Teddy, Tante Sofie und Markus – erkenne ich, dass ich offenbar die Einzige bin, die noch nichts davon wusste.
    Unbeachtet stehle ich mich zurück ins Zimmer und schaue Ina ins Gesicht. Es

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