Einundzwanzigster Juli
ist fleckig und eingefallen, die Lippen gesprungen; eine faltige, klauenartige, glühend heiße Hand hält einen Zipfel der Decke umklammert. Unmöglich sich vorzustellen, dass es dieselbe Ina ist, die noch vor wenigen Monaten übermütig einem Federball hinterhergerannt ist, mit wehenden Haaren und tiefem, fröhlichem Lachen. Konstantin und Caroline würden ihre Mutter nicht wiedererkennen!
Ich spüre, wie es in mir dunkel wird. »Du willst nach Lautlitz zurück!«, flüstere ich ihr verzweifelt zu. »Du siehst die Kinder wieder, du musst! Schau mich an, ich war mit dir krank und laufe schon wieder herum. Das kannst du auch!«
Auf dem gegenüberliegenden oberen Etagenbett sitzt Fey an die Wand gelehnt und presst ein feuchtes Tuch gegen die Stirn. »Das kann nicht die Ruhr sein, Fritzi«, sagt sie matt. »Ich weiß nicht, was es ist, aber solche Kopfschmerzen hatte ich noch nie.«
»Du auch?« Ich bin starr vor Entsetzen. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich hatte noch etwas Chinin im Koffer, das habe ich genommen, als die Halsschmerzen anfingen. Ich wollte niemanden beunruhigen.« Ihre Stimme bricht. »So dumm ...! Nun habe ich vielleicht meinerseits jemanden angesteckt.«
Sie weint. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten. Mit jedem ihrer Schluchzer gerät ein Weiteres außer Kontrolle, woraufich fest gezählt hatte: Fey bleibt stark! Fey weint nicht! Wie kann sie mir das bloß antun?
Mit bleischweren Beinen schleppe ich die Katastrophe in den Aufenthaltsraum. Es kommt mir vor, als hätte ich eine Fahne nach unten gesenkt.
Zwei Stunden später öffnet sich das Tor zu unserem Innenhof, um zwei Männer in Weiß einzulassen, die wir zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Es sind der Lagerarzt und ein Assistent, herbeibeordert, um sämtlichen Häftlingen der Baracke Blut abzunehmen. Sie tun dies mit einem unverkennbaren Ausdruck des Widerwillens, aber das Ergebnis der Untersuchung erreicht uns schnell. Nanni, Tante Ilselotte und Anna leiden an Scharlach, fast alle anderen an Ruhr.
Was Ina, Mutter und Fey betrifft zögern die Sturmbannführer ein wenig, bevor sie eingestehen, dass im Lager bereits seit Wochen eine Epidemie herrscht, von der sie uns nicht unterrichtet hatten. Ina, Mutter und Fey haben Typhus.
Klüger zu sein, das weiß ich jetzt, ist nicht unter allen Umständen hilfreich. Wenige Tage nachdem die Sturmbannführer uns mit der Diagnose und einigen Medikamenten ausgestattet haben, um anschließend fast im Laufschritt die Baracke zu verlassen, kann ich nicht mehr sagen, was zuerst kam: das Wort Typhus oder der ungebremste Ausbruch der Krankheit. Mir ist, als habe Mutter sich im selben Moment aufgegeben, als sie hörte, was ihr fehlt. Apathisch liegt sie mit den anderen Kranken im Isolierzimmer und lässt kaum erkennen, ob sie noch weiß, wer ich bin.
»Du solltest gar nicht hier sein, Fritzi«, sorgt sich Tante Sofie, während ich ihr helfe, die nass geschwitzten Decken zu wechseln.
Ich antworte nicht. Soll ich ihr etwa sagen, dass ich Gott herausgefordert habe?
Wenn schon, dann nimm uns beide! Lieber mich anstecken und sterben, als allein übrig zu bleiben!
Sobald ich das erzähle, wird Tante Sofie versuchen, mich vom Gegenteil zu überzeugen – und was dann?
Sitze ich still an Mutters Bett, erfüllt mich manchmal ein ganz sonderbarer, tiefer Friede und ich begreife, dass es gar nichts Erschreckendes hätte, unser Leben hier zu beenden: hier unter all den lieb gewordenen Menschen, mit denen wir seit fünf Monaten hoffen und ausharren. Der besten Familie, die ich je hatte! Tief in mir sehne ich mich nach diesem Frieden, möchte ihn geschehen lassen ...
... und bin jählings wieder voll Verzweiflung und würde am liebsten aus dem Zimmer rennen. Es macht ja doch keinen Unterschied, ob ich bei Mutter und Ina bleibe! Bilde ich mir wirklich ein, meine Gegenwart könne sie daran erinnern, dass sie für ihre Kinder am Leben bleiben müssen? Mutter habe ich schon einmal nicht genügt. Jetzt, wo ihre Kräfte zu Ende gehen, wird sie sich umso mehr danach sehnen, Fabian wiederzusehen.
Vielleicht müsste ich es ihr sogar wünschen. Aber sitze ich nicht auch für Konstantin und Caroline hier? Ich könnte ihnen nicht mehr in die Augen sehen, wenn ich einfach aufgäbe.
Die Ruhr- und Scharlachkranken dösen vor sich hin, lesen ein wenig oder schreiben Briefe. Alle Kranken sind in einem einzigen Zimmer, die Erreger quasi aufeinander losgelassen, aber vielleicht schüchtern sie sich gegenseitig ein
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