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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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schreibe, höre ich in der Ferne das Donnern schwerer Artillerie.
    In der letzten Nacht hatten wir zum ersten Mal Fliegerangriffe. Mehrere Stunden hockten wir unter den Türpfosten, vage hoffend, dass diese wenigstens einen kleinen Schutz bieten. Die ganze Baracke wackelte von nahen Bombeneinschlägen, im Nachthimmel zuckten Lichter wie schwaches Wetterleuchten.
    »Eine verdammte Mausefalle«, brummte Max. »Vor uns die Rote Armee, im Rücken die SS!«
    Ich versuchte meine Angst umzulenken, indem ich an die Kranken dachte, die in noch größerer Gefahr schwebten, da sie im Falle eines Falles nicht einmal selbst aufstehen und sich in Sicherheit bringen konnten. Ich stellte mir vor, wie sie hellwach in ihren Betten lagen, horchend und zitternd, während Ina sich aufrichtete und fantasierte – kein Grund zur Beunruhigung, meint Dr. Goerdeler, beim Abklingen von Typhus komme es manchmal zu Hirnstörungen. Aber es ist gespenstisch mit anzusehen, und wenn ich während der Fliegerangriffe im Krankenzimmer gewesen wäre, hätte es mir den Rest gegeben.
    Befreit werden wollen wir, schließe ich aus den fortwährenden nervösen Diskussionen – aber nicht von denen, die da näher rücken. Auf keinen Fall von den Russen!
    Die meisten beginnen schon zu packen, versuchen in kleinere Koffer zu stopfen, was irgend geht, sortieren aus. Die abgetragenen Sommersachen ... werden wir sie noch brauchen? Nein, unvorstellbar, dass wir im nächsten Sommer noch unterwegs sein werden! Die Sommersachen bleiben hier, wenn das große Gepäck nicht mitgenommen werden kann.
    In der allgemeinen Auflösung schlägt Tante Adeles große Stunde. Imprrrovisation ist ein Thema, das sich durch ihr ganzes Leben zieht, und unter diesem Motto packt sie schwungvoll Mutters Koffer. Eigentlich erstaunlich, dass gerade die Älteren so gut durchhalten ... Es sind die Jungen, die umgefallen sind, während Tante Adele, Onkel Teddy und Dr. Goerdeler allen Krankheiten widerstanden haben.
    Am Abend wird Onkel Teddy zum Kommandanten bestellt. Unsere Vorahnung war richtig. Bei seiner Rückkehr erfahren wir, dass die Verlegung der Sippenhäftlinge unmittelbar bevorsteht. Im Laufe des nächstens Tages sollen wir in einem geheizten Waggon nach Danzig gebracht und von dort ins Innere des Reichs weitertransportiert werden.
    Himmler bringt uns in Sicherheit!

D REIZEHN
    Hätten wir die Decken nicht, wir müssten wohl erfrieren. Die Fenster der Kleinbahn sind zersprungen, Schnee liegt auf den Sitzen und weht durch den Gang, draußen herrschen fast dreißig Grad unter null. Zitternd kauern wir nebeneinander und warten, warten. Seit Stunden warten wir auf unsere Männer.
    Im Sturm vor der Tür kann man kaum die Hand vor Augen sehen. Zwei Sankas haben uns am frühen Abend abgeholt – nur zwei Sanitätswagen für die Kranken, die Frauen und das Gepäck; die Männer wurden zu Fuß auf den Weg geschickt. Wir sahen sie im Dunkeln abmarschieren, den langen Mantel von Max, die Jacke von Julius, Dr. Goerdeler im Pelz, begleitet von SS mit Maschinenpistolen und sofort vom Schneegestöber verschluckt. Ich rang einen Anflug von Panik nieder. Getrennt zu sein, zum ersten Mal nach drei Monaten!
    Und ganz ohne Schutz. Wer mit mir im Wagen sitzt, kann sich kaum auf den Beinen halten. Ich blicke in starre, blau gefrorene Gesichter, und eine Katastrophe: Onkel Teddy, glühend vor Fieber. In letzter Sekunde hat es ihn noch erwischt. Typhus? Niemand wagt den Gedanken zu Ende zu denken angesichts der Reise, die uns bevorsteht.
    Von der Bedrohung durch die näher rückende Front abgesehen, war es uns so gut gegangen in den letzten beiden Wochen! Die Nachricht von den Kindern wirkte wie Medizin, mehrere Pakete mit Lebensmitteln und warmer Kleidung, die Lexi bei Verwandten eingesammelt hatte, wurden nach gründlicher Durchsicht durch die Lagerleitung komplett bei uns abgeliefert, zwei Häftlinge kamen, um beim Wäschewaschen und Holzhacken zu helfen.
    Kurze Freude! Sie macht den neuerlichen Rückschlag umso schlimmer. Ich hatte an den geheizten Waggon geglaubt ! Zum Glück sind es nur dreißig Kilometer bis Danzig, wo die Fähre über die Weichsel setzt. Das kann ja nicht ewig dauern.
    Da. Durchs Fenster klingt das Knirschen vieler Stiefel im Schnee, ich halte den Atem an. Als Erster schiebt sich Julius durch die Tür, mit zu Schneelocken gedrehtem Haar und einem Eiszapfen an der Nase. »Ach, habt ihr’s gemütlich«, entfährt es ihm, während er sich entgeistert umsieht.
    Nach und nach schaffen

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