Einundzwanzigster Juli
erleichtern, mit dem Namen des Heims aber nicht heraus und die Ärzte im Sanatorium wollten nicht in sie dringen.
Doch Lexi hatte nie aufgehört, herumzuhorchen und zu fragen, bis ihr kurz vor Weihnachten zu Ohren kam, dass die Kinder Schwerin, Tresckow und andere bereits im Oktober nach Hause zurückgekehrt waren. Und diese konnten zwar nicht sagen, wo genau sich das Kinderheim befand, in dem sie mit den jungen Goerdelers, von Lautlitz und Hofackers monatelang gelebt hatten, aber selbstverständlich erinnerten sie sich an den Namen der Heimleiterin!
Und so kommt es, dass Tante Ilselotte, Anna und Eberhard am Tisch sitzen und wieder und wieder einen Brief von Christa lesen, und ich glaube, auch Ina hat genau verstanden, was Max ihr erzählt hat, denn sie hat ihn angeschaut und ungläubig den Kopf geschüttelt, und plötzlich liefen dicke Tränen über ihr Gesicht.
Max glüht vor Stolz. Der vielen Fragen wird er kaum Herr. Ja, Lexi war Weihnachten bei den Kindern, sie hat ihnen Geschenke gebracht und zwei Tage mit ihnen verbringen dürfen, es gehe ihnen gut, sie würden liebevoll betreut und alles stehe in dem Brief an Nelly, dessen Kopie dort auf dem Tisch liege. Ja, Nelly werde regelmäßig von Lexi besucht; Lexi verpflege Nelly mit ihrer Schwerstarbeiter-Lebensmittelkarte und bessere ihre eigene Mahlzeiten durch Pilze, Beeren, Kaninchen und alles irgend Essbare auf, das sie im Freien findet.
Nein, das Baby sei noch nicht da, werde aber jeden Tag erwartet, und nein, Lexi werde das alles nicht zu viel, sagt Max und fügt verwundert hinzu: »Sie sah gut aus. So zuversichtlich, so absolut mit sich im Reinen ... so habe ich sie lange nicht gesehen. Als ob alles, was sie in den letzten Jahren getan hat, auf einmal seinen wahren Sinn offenbare.«
Seinen wahren Sinn? »Uns durch ihre Kriegswichtigkeit helfen zu können. Nelly beizustehen, die Kinder zu finden«, sagt er und fügt so leise hinzu, als müsse er sich selbst erst mit dem Gedanken vertraut machen: »Vielleicht lief es in Wahrheit immer nur auf dieses eine hinaus.«
Später kehre ich ins Krankenzimmer zurück, um zu berichten. Auch Fey hört tapfer zu, obwohl sie bestimmt lieber weinen würde. Ihre Kinder sind nicht in dem Heim.
Ist es ein Zufall, dass dies der kälteste Winter seit Jahren ist? Oder kann es gar nicht anders als kalt und dunkel bleiben, solange dieser Krieg die Menschen beherrscht, solange die SS gleich hinter unserem Zaun quält und mordet und Gefangene mit Hunden hetzt?
Solange das rachlüsterne Töten nicht abreißt. Mitte Januar wird Tante Ilselotte in knappen Worten mitgeteilt, dass man Onkel Cäsar hingerichtet hat.
Ich weiß nicht, wie ich Anna und Eberhard begegnen soll. Es bleibt bei scheuen, ernsten Blicken; es ist, als habe sich eine Glocke über sie gelegt, die sie und ihre Mutter einschließt in einem Schmerz, den sie mit niemandem teilen können.
Und mein Vater? Auch für Mutter und mich hatte Lexi eine Nachricht. Vater ist von Ravensbrück, wo er seit dem Sommer inhaftiert war, nach Berlin verlegt worden – ins Gefängnis Lehrter Straße! Über den Gefängnispfarrer Harald Poelchau hat Lexi ihm übermitteln lassen, dass Mutter und ich mit den anderen Lautlitzern in Haft und am Leben sind.
Ich schreibe ihm, die Worte fließen nur so aus der Feder. Briefe an Vater waren mir in den letzten Jahren eine Last geworden – seine Abwesenheit, Fabians Tod, Oschgau ... Gab es überhaupt noch etwas, das uns verband?
Vorbei! Mit einem Mal ist Vater wieder gegenwärtig, sieht, was wir gesehen haben, hört dieselben Geräusche, trifft dieselben Menschen. In wenigen Wochen wird Lexi wiederkommen, dann wirdsie meinen Brief mitnehmen und vielleicht sogar einen für uns haben.
Hoffentlich ist es bis dahin nicht zu spät. Ich versuche, beim Schreiben nicht zu Anna und Eberhard zu sehen. Mir vorzustellen, dass man mir Vater jetzt wegnehmen könnte – nachdem ich ihn gerade wiederfinde!
Mutter und Ina geht es besser, sie sind ansprechbar und das Fieber schwankt weniger stark. Auf den Beinen sind sie allerdings noch nicht, was beunruhigend ist, denn eine andere Gefahr rückt näher und näher und nur die SS tut noch so, als ob nichts wäre.
Vor einer Woche haben sie unseren Lautsprecher entfernt, wir sollen den Heeresbericht nicht mehr verfolgen können. Halten sie uns für so dumm? Als ob wir nicht mit eigenen Ohren hörten, wie die Front näher rückt! Zwanzig Kilometer, schätzt Onkel Teddy, und auch jetzt, während ich Vater
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