Einundzwanzigster Juli
– weiter ausgebreitet hat sich noch keiner. Jeden Morgen kommt Dr. Goerdeler, um fiebersenkende Spritzen zu verabreichen, mehrmals Tante Sofie, die Brot, Tee oder die Bettpfannen bringt, und zweimal am Tag Max mit dem Ofenholz. Manchmal steckt er Fey ein Briefchen zu, um sie aufzuheitern. Er hat ihr sogar ein Gedicht geschrieben! Ich glaube, auf seine Art versucht er dasselbe wie ich.
»Liebst du Max?«, habe ich Fey ganz direkt gefragt.
»Natürlich«, erwiderte sie müde. »Ich weiß nicht, wie ich die letzten Monate ohne ihn durchgestanden hätte. Alles Schlechte verliert an Bedeutung, wenn man sich auf jemanden freuen kann.Und nein«, setzte sie hinzu, als ob ich nicht sofort verstanden hätte, »es hat nicht das Geringste mit seiner Frau oder meinem Mann zu tun.«
Es muss wohl stimmen, denn als Max eines Morgens in unserer Tür steht, um ein Wunder zu verkünden, gerät sie fast ebenso aus dem Häuschen wie er.
»Ich bekomme«, jubelt er, »Besuch von meiner Frau!«
»Nein! Wann? Woher weißt du?«, ruft es durcheinander.
»Gleich! Jeden Augenblick! Sie haben gesagt, ich soll mich am Tor bereithalten!« Max’ Gesicht ist ein einziges Leuchten. »Himmel, hoffentlich ist das kein schlechter Scherz. Kann ich mich überhaupt sehen lassen?«
Die Glückseligkeit fällt sekundenlang von ihm ab, während er bestürzt an seiner Jacke zupft, über sein schmal gewordenes, stoppeliges Gesicht streicht – als fiele ihm erst jetzt auf, wie verwahrlost wir alle aussehen!
»Das ist ihr völlig egal«, behauptet Fey liebevoll.
Aber für einen kurzen Moment sehe ich Max mit Lexis Augen und ich weiß, dass es ihr ins Herz schneiden wird.
Vom Eingang aus beobachte ich, wie er angespannt vor dem Tor auf und ab läuft, bis es endlich einen Spalt geöffnet wird und er hinausschießt wie eine Kanonenkugel. Seine Unruhe bleibt zurück und summt in der Baracke weiter: der erste Besuch seit drei Monaten! Was bedeutet das für uns? Was, wenn es nur eine Finte ist und sie Max nicht zurückbringen?
Nein, beruhigt jemand, dazu brauchen sie keine Finte. Sie können jeden von uns jederzeit holen, wenn ihnen danach ist.
»Fritzi, du musst dich desinfizieren, wenn du von den Kranken kommst!«, erinnert mich Tante Sofie streng. Aber ich gehe ja schon wieder! Ich wollte nur sehen, ob es wirklich wahr ist.
Erst nach der Rückkehr ins Krankenzimmer schleicht sich die Enttäuschung an und wirft eine feine Schlinge um meinen Hals. Nur Max darf Lexi sehen! Ich weiß, dass es so ausgemacht ist, dassdie Besuche im Gefängnis lediglich ein Zugeständnis waren, ermöglicht durch jenen ominösen Regierungsrat in Berlin, der Lexi verehrt – ihr weißer Rabe Opitz , wie Max ihn nicht ohne Spitze nennt. Aber mir vorzustellen, dass sie jetzt hier ist, irgendwo draußen, so nahe bei uns, ist kaum zu ertragen.
»Selbst wenn sie könnte, dürfte sie nicht zu uns hinein, Fritzi«, sagt Nanni, die spürt, wie mir zumute ist. »Diese Baracke ist ein Bazillen-Mutterschiff.«
Ich muss fast wieder lachen. Ob ich denn wenigstens einen Brief bekomme?
Eine Stunde verstreicht, dann die zweite, und in die Freude, dass Max offenbar ausgiebig mit Lexi sprechen darf, sickert von Neuem Sorge. Zwei Stunden! Kann das mit rechten Dingen zugehen?
Ich riskiere einen Blick in den Flur. An der Eingangstür halten sie schon murmelnd Ausschau: vielleicht doch nur ein Vorwand? Werden am Ende etwa beide festgehalten?
»Langsam«, beschwichtigt Onkel Teddy. »Vielleicht treffen sie sich außerhalb des Lagers – dann müssen wir die Hin- und Rückfahrt bedenken.«
Endlich, nach fast zweieinhalb Stunden, öffnet sich unser Tor und Max kommt mit großen Schritten durch den Hof. So eilig er es eben hatte hinauszugelangen, so zielstrebig läuft er nun wieder zurück, wortlos vorbei an der verblüfften Versammlung im Flur, schnurstracks auf mich zu, die wie angewurzelt in der Tür zum Krankenzimmer steht ...
... und an mir vorbei und quer durchs Zimmer. Max, der eine Heidenangst vor Ansteckung hat, der nicht schnell genug verschwinden kann, sobald er das Holz gebracht hat! Ohne zu zögern, steuert er auf Ina zu, setzt sich an ihr Bett, nimmt ihre Hand.
»Ina«, sagt er und schaut ihr ins Gesicht, »Lexi hat die Kinder gefunden!«
Am Anfang steht eine merkwürdige Geschichte. In einer psychiatrischen Klinik war im Herbst eine SS-Führerin aufgetaucht, die an einen geheimen Ort verschleppte Kinder zu betreuen hatte. Die Frau redete und weinte, wollte ihr Gewissen
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