Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition)
Titel:
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt
seiner ledernen Umhängetasche bei sich trug, damit er jederzeit Querverweisen nachgehen oder diese protokollieren konnte. Nach und nach füllte sich diese Tasche mit in Stoff und Leder gebundenen Kladden.
Eigentlich drängte alles in ihm danach, die Stätten aufzusuchen, die großen Pyramiden von Gizeh, die uralten Grabmäler und Mastabas rings um sie herum, auf der Suche nach Erkenntnissen und den wahren Begräbnisstätten der längst vergangenen Hochkönige des Landes. Doch er hielt sich mit Willenskraft zurück, war sich darüber im Klaren, dass er zuerst eine solide Wissensbasis schaffen musste, und dies konnte er nur hier, im Ægyptischen Museum, wo die Erkenntnisse nicht in Steinen, sondern in neuen Büchern und altem Papyrus harrten.
Heinrich war dem Himmel nah. Er hatte Tage in den Mastabas rings um die Pyramiden verbracht, fand er doch, er müsse klein anfangen, ehe er sich den großen Bauwerken widmete, um ein Gefühl für das zu bekommen, was er untersuchte. Auch war allgemein anerkannt, dass die Totenstädte älter waren als die größeren Grabmale. So war er der Überzeugung, dass seine Untersuchungen in den Mastabas ihn auf die Pyramiden vorbereiten würden. Es gab keinen Grund, etwas zu überstürzen. Er hatte Zeit. Akribisch zeichnete er in seinen Notizbüchern auf, was er fand. Rieb Hieroglyphen ab. Verglich sie miteinander und mit älteren Ideogrammen.
Abends in seinem neuen Zimmer, er war trotz der eher geringen Entfernung nach Gizeh umgezogen, nahm er die Aufzeichnungen zur Hand und sah sie noch einmal durch. Ergänzte, machte Fußnoten. Entdeckte Einzelheiten, die er zuvor übersehen hatte. Notierte auch diese. War in seinem Element. Meist sank er irgendwann tief in der Nacht erschöpft in sein Bett.
Wie an jedem Morgen zum Frühstück brachte Farid die hiesigen Tageszeitungen. In Ægypten wurde trotz der langen osmanischen Herrschaft eine Variante des Arabischen geschrieben und gesprochen, aber in den letzten Jahren selbstverständlich auch vermehrt die Zunge der Befreier, also venezianisch. Heinrich las zwei der Blätter: Bei der „Stimme Kairos“ handelte es sich um eine ægyptische Zeitung, tief verwurzelt in den Traditionen des Landes, „Ægypten Täglich“ war ein Schmierenblatt, die Artikel verfasst von einem Konglomerat ausländischer Journalisten und herausgegeben von hiesigen Redakteuren. Oder vielleicht eher: Die Schreiberlinge waren europäische Volontäre, die sich hier ihre Meriten verdienen mussten, ehe es ihnen erlaubt wurde, für „richtige“ Zeitungen zu schreiben. Zog man allerdings die haarsträubendsten Geschichten und den Tratsch ab, ergaben sich manchmal verblüffende Einblicke in das, was gerade im Lande des Nils geschah und das Volk bewegte – und das war der einzige Grund, warum der Archæologe „Ægypten Täglich“ überhaupt verfolgte.
An diesem Morgen legte Heinrich das Blatt allerdings kopfschüttelnd beiseite. „Man mag es kaum glauben, Farid“, sagte er, „die Geschichten vor Tagen mit dem dreiköpfigen Affen oder die völlig hanebüchene vor Wochen mit den vorgeblichen Besuchern von Mars oder Venus waren bereits verrückt genug, aber nun schreiben sie über Mumien, die des Nachts durch die Straßen wandeln und Personen nicht nur angreifen, sondern sogar verschleppen. Vielleicht sollte ich dieses erbärmliche Käseblatt doch nicht mehr goutieren.“
Der Angesprochene ergriff noch eine tameja , stopfte sie sich unzeremoniell in den Mund und kaute angelegentlich darauf herum. Deswegen war seine Aussprache ein wenig undeutlich, als er entgegnete: „Vielleicht sollten die einbalsamierten alten Könige und ihre Diener gar nicht im al-āhira auferstehen, sondern im Diesseits? Wäre doch möglich? Ich habe nächtens in den Mastabas Dinge gesehen …“
„Ja, ja …,“ unterbrach Heinrich abwinkend, denn er kannte die Schauergeschichten, die Farid sich ausdachte, um fremdländischen Besuchern, aber besonders den Mädchen zu imponieren. Er zerknüllte die Zeitung, warf sie in eine Ecke und öffnete die „Stimme“. Darin fanden sich keine Hinweise auf irgendwelche wandelnden Toten, wie er es sich bereits gedacht hatte. Es hatte einen größeren Unfall bei den örtlichen Karbid-Werken am Nil gegeben, zu dessen Ursache man noch nichts Genaueres sagen konnte. Kein Wunder, dachte Heinrich, dort agierte man mit beinahe unirdischen Stromstärken, schier unglaublich, dass nicht viel mehr Katastrophen geschahen. Der Unfall führte zu gestiegenen
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