Eis und Wasser, Wasser und Eis
angestarrt.
Vielleicht war sie deshalb am Morgen mit einem Ruck aufgewacht und hatte sofort beschlossen, dass das nicht wieder passieren durfte. Sie konnte das nicht zulassen. Also hatte sie sich rasch ausgezogen und war nackt ins Bad geeilt, hatte sich unter eine Dusche gestellt, die so kalt war, dass ihre Zähne anfingen zu klappern, und war dann ihrem eigenen herrischen Blick im Badezimmerspiegel begegnet. Zieh dich an. Koch Kaffee. Trinke ihn. Geh raus. Sprich mit Björn, bevor er auf Tournee geht. Erzähle ihm alles. Komm zurück. Schreibe Briefe an diese Reedereien. Sieh zu, dass etwas passiert. Etwas Schönes. Etwas, das den Bann bricht. Etwas, das dich wieder zu der macht, die du einmal warst, die du sein solltest, die du eigentlich bist.
Sie war eine andere geworden. Das war die Wahrheit. Im Laufe der zehn Tage, die vergangen waren, seit sie in ihre eigene kleine Hölle gezogen war, hatte die Einsamkeit sie verdreht, gelähmt und verwandelt. Nach dem Willkommensessen am ersten Abend in Lydias glänzender, frisch renovierter Küche hatte sie ihre Mutter nur dreimal getroffen. Einmal im Treppenhaus. Einmal, als sie Lydia gebeten hatte, ihr die Zeitung zu leihen. Ein drittes Mal, als sie an der Tür ihrer Mutter geklingelt hatte, um zu fragen, ob sie etwas für Lydia mitbringen sollte, als sie für sich selbst einkaufen gehen wollte. Das war nicht nötig, hatte Lydia gesagt. Sie zog es vor, ihre Einkäufe selbst zu erledigen, und sie hoffte, Elsie würde das verstehen. Schließlich waren sie erwachsene Menschen. Selbstständig. Unabhängig.
Als sie anschließend in den Laden ging, war ihr Rücken krumm, aber sie hatte es erst bemerkt, als sie in einer Fensterscheibe ihr eigenes Spiegelbild sah. Sie hatte dieser gebeugten Gestalt einen verächtlichen Blick zugeworfen, bis ihr aufging, dass sie das ja tatsächlich selbst war. Und dennoch hatte es noch eine Weile gedauert, bis sie genug Kraft gesammelt hatte, um sich aufzurichten. Zur See, hatte sie gedacht. Ich muss wieder zur See fahren … Aber es war ihr nicht gelungen, diesen Gedanken festzuhalten, er war ihr wieder entglitten, noch bevor sie zu Hause angekommen war, und als sie dann endlich wieder in ihrer Küche saß, war er gänzlich verschwunden. Eine orangefarbener Tetrapak mit Milch stand auf der Arbeitsplatte, aber es hatte fast eine Stunde gedauert, bis sie in der Lage gewesen war, aufzustehen und ihn in den Kühlschrank zu stellen.
Aber heute war es anders. Heute hatte sie das gemacht, wozu sie seit mehreren Tagen nicht in der Lage gewesen war. Geduscht. Kaffee gekocht. Ihn getrunken. Und war von zu Hause weggegangen, ohne einen ängstlichen Blick auf Lydias Tür zu werfen, ja, ohne auch nur auf die Uhr zu sehen, um zu überprüfen, ob Lydia bereits gegangen war. Und heute wollte sie sich Björn in Inez’ Küche gegenüber setzen und eine ganze Weile mit ihm allein sein, längere Zeit, als sie je zuvor mit ihm allein gewesen war. Sie würden miteinander reden. Sie wollte endlich auf die Fragen antworten, die er nie gestellt hatte. Und das würde schön werden. Richtig schön.
Voller Schwung nahm sie die drei Stufen zur Tür; während sie sich die Handschuhe auszog, streckte sie schon die Hand zur Klingel aus, zögerte dann aber. Warum klingeln? Vor ein paar Wochen war sie hier nach Belieben ein und aus gegangen. Die Hand sank und legte sich auf die Türklinke, diesen schweren, schwarzen Türgriff, dessen runde Form sie immer gemocht hatte, ohne es sich selbst je einzugestehen und ohne es je einem anderen zu erzählen. Sie drückte ihn hinunter und öffnete. Die Tür glitt auf, und sie öffnete den Mund, um ein fröhliches Hallo zu rufen, blieb aber mit offenem Mund stehen. Horchte.
Er sang. Björn stand in der Küche und sang. Und zwar ein Kirchenlied.
»Hallo!«
Sie rief es laut, fand, es klänge ziemlich alltäglich und fröhlich, blieb aber eine Spur länger als nötig vorne an der Garderobe stehen. Jetzt war es vollkommen still im Haus, nichts rührte sich mehr in der Küche. Ein Fantasiebild huschte vorbei: Björn war zu Boden gesunken, er lag dort und hauchte sein Leben aus. Sie richtete sich auf – was für ein Quatsch! – und schob das Bild beiseite, während sie sich rasch mit der Hand über das Haar fuhr. Sie gab sich alle Mühe, diese Bewegung so weich wie möglich auszuführen, wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie vollkommen entspannt war, machte dann den Schritt auf den Flur hinaus. In dem Moment tauchte Björn in
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