Eis und Wasser, Wasser und Eis
zu Hause fühlen, obwohl sie nie zuvor auf diesem Schiff gewesen war. Anastasia. Getauft nach der jüngsten Tochter des letzten Zaren. Diejenige, die eventuell – aber nur eventuell – die Schüsse des Exekutionskommandos überlebt hatte und jetzt als Anna Anderson in den USA lebte. Elsie schmunzelte über sich selbst. Illustriertenwissen. Das sie sich im Wartezimmer beim Zahnarzt angeeignet hatte.
Nein. Zeit, sich nützlich zu machen.
Sie öffnete das Schiffstagebuch und überflog die letzten Aufzeichnungen. Ihre Vorgängerin war offenbar vor einer Woche krank geworden, aber dennoch hatte jemand sorgfältig Buch geführt. Sie griff nach dem Stift und schrieb: 1845 GMT FM MALMOE BND ROTTERDAM. TEST RCVRS XMTRS AUTOALARM OK. BATTERIES ACID 1.27. Was bedeutete, dass die Anastasia den Hafen von Malmö um 18 Uhr 45 mit Kurs auf Rotterdam verlassen hatte, dass Radioempfänger, Sender und der automatische Alarm kontrolliert waren und funktionierten und dass die Batterien im Notsender geladen waren. Sie schaltete den Funksender ein und nahm Kontakt mit dem Land auf. BND ROTTERDAM QRU? Habt ihr ein Telegramm für mich? Die Antwort kam umgehend. NIL. Nichts.
Alles war wie immer. Wie es sein sollte. Und sie selbst hatte nur noch eine Sache zu tun, bevor sie Schweden und Landskrona hinter sich lassen konnte. Sie ging zum Funktelefon. Die Verbindung war laut und deutlich, es klang wie ein normaler Telefonanruf, als die Klingeltöne in Inez’ und Birgers Haus ankamen. Als jemand schließlich den Hörer abnahm, beugte sie sich über den Tisch vor. Als wollte sie vertraulich sprechen.
»Inez?«
»Elsie? Hast du dein Telefon gekriegt?«
Inez’ Stimme klang ungewöhnlich hell. Fast fröhlich. Elsie zögerte einen Moment mit der Antwort.
»Nein. Ich fahre wieder zur See. Wir sind im Augenblick im Öresund.«
»Was?!«
»Die Funkerin auf diesem Schiff ist krank geworden. Deshalb bin ich als Vertretung für sie eingesprungen.«
Inez war einen Moment lang still. Überlegte vielleicht, wie die Reederei denn mit Elsie hatte Kontakt aufnehmen können, fragte aber nicht danach. Sie räusperte sich nur, und ihre Stimme klang etwas gedämpfter.
»Ja. Aber vielleicht ist das ja auch nur gut so. Dass du wieder rauskommst, meine ich.«
Elsie atmete aus. Inez klang weder kritisch noch beleidigt, nur nett und verständnisvoll. Sie schluckte schnell und erwiderte:
»Ja. Das denke ich auch.«
Wieder wurde es still, aber das war ein freundliches Schweigen. Ein Schweigen unter Schwestern.
»Ich habe Lydia die Wohnungsschlüssel gegeben«, erklärte Elsie schließlich. »Aber ich glaube, es ist fast besser, wenn du sie nimmst.«
Inez seufzte leise. Verstand.
»Das glaube ich auch.«
»Könntest du das Geld für die Stromrechnung auslegen, wenn sie kommt?«
»Ja, natürlich.«
Einfach so. Ja, natürlich. Inez wurde offenbar eine andere. Vielleicht konnte Elsie dann auch eine andere werden. Wenn nur Björn … Der Gedanke zog einen weiten Kreis.
»Hast du dein Zimmer schon gestrichen?«
Sie konnte hören, wie Inez lächelte, dort auf ihrem Flur.
»Ja. Und es ist so schön geworden. So hell und schön. Ich werde mich dort wohl fühlen.«
Elsie erwiderte das Lächeln, in ihrer Funkkabine.
»Prima.«
Inez wurde leiser.
»Und jetzt kocht Birger das Essen. Zum ersten Mal in seinem Leben.«
Elsie musste kichern.
»Nicht schlecht!«
Und dann, ohne dass sie richtig wusste, wie es dazu kam, beugte sie sich noch tiefer über den Tisch und flüsterte fast:
»Ich habe heute mit Björn gesprochen. Über seinen Vater.«
Es wurde still. Inez antwortete nicht. Aber Elsie konnte ihren Atem hören. Zuerst ein tiefer und dann drei kurze, flache Atemzüge. Sie machte einen neuen Versuch.
»Ich dachte, er hat das Recht … Aber er wollte nicht zuhören. Er hat gesagt, er wolle es gar nicht wissen.«
Die Tränen stiegen plötzlich auf und hinderten sie am Weitersprechen. Inez schwieg immer noch auf ihrem Flur, schwieg und lauschte dem Schluchzen ihrer Schwester. Elsie zog die Nase hoch und versuchte es noch einmal:
»Er hat gesagt, dass ich nicht seine Mutter bin!«
Vielleicht atmete Inez genau in diesem Moment aus. Vielleicht hätte Elsie es gehört, wenn ihr eigenes Weinen nicht die anderen Laute übertönt hätte. Aber sie hörte, wie Inez schließlich das Wort ergriff und erklärte:
»Aber das hast du doch gewusst.«
Sie klang immer noch wie eine Schwester. Eine betrübte, mitfühlende Schwester. Und Elsie meinte ihr besorgtes
Weitere Kostenlose Bücher