Eis und Wasser, Wasser und Eis
jetzt gedämpfter. »Ihrem Bruder.«
»Meinem Cousin«, sagt Susanne und tritt einen Schritt vor ans Waschbecken, pumpt ein wenig Seife heraus und wäscht sich die Hände.
Die Frau zuckt hinter ihrem Rücken mit den Schultern. Ihre Blicke begegnen sich im Spiegel.
»Nie hat mir jemand geglaubt … Niemand wollte mir zuhören.«
Das ist eine Lüge, und das wissen beide. Die Zeitungen haben ja zugehört. Aber Susanne greift nach einem Papierhandtuch und dreht sich um, sieht der Frau direkt in die Augen und sagt:
»Ich höre zu.«
Britt-Marie Samuelsson schaut auf, mustert sie zögernd.
»Also«, sagt Susanne. Sie lässt sich auf einen kleinen Hocker sinken. Nach kurzem Zögern setzt sich Britt-Marie auf den Hocker daneben.
»Ich habe es mein Leben lang bereut«, sagt sie. »Dass ich einen ganzen Monat lang gewartet habe, bis ich zur Polizei gegangen bin. Aber ich war ja erst sechzehn …«
Langsam und umständlich sickert der Bericht aus ihr heraus. Sie war ein Scheidungskind. Ihre Mutter arbeitete in der Schuhfabrik, sie selbst war Kindermädchen bei einem Studienrat von der Oberschule in Nässjö und träumte von einer Zukunft weit weg, ganz woanders. Sie war immer im Folkets Park, wenn die angesagten Rockbands auftraten, schlich sich meistens durch das Loch in dem Gunnebozaun, sie konnte es sich ja nie leisten, eine Karte zu kaufen für einen Sitzplatz und so …
Susanne wird ungeduldig, windet sich. Ja, und Björn? Was hat sie über Björn zu sagen?
»Na ja«, sagt die Frau. »Sie waren ja da. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Sie haben ja gesehen, was auf der Bühne passiert ist.«
Susanne nickt. Sie erinnert sich noch ganz genau, an jede Sekunde, jede Bewegung. Wie sie dastand und sich an das hintere Geländer lehnte. Ihre eigene Verwunderung, als Robban auf die Bühne kam und mit seiner Pantomime anfing. Ihr leicht schuldbewusstes Lachen, das in ihrer Kehle aufstieg, als sie sah, dass Peo lachte, und wie es ihr plötzlich im Hals stecken blieb, als Björn sich umdrehte und das Mikrofon fallen ließ …
»Ich war wohl als Erste oben auf der Bühne«, sagt Britt-Marie und schnieft. Sie redet jetzt ganz schnell, sucht nicht nach den Worten, es scheint, als sage sie etwas auf, das sie auswendig gelernt hat. Wie das halbe Publikum ihr plötzlich gefolgt ist. Und wie dieser dumme Ordner, Svensson hieß er, sich über Björn geworfen und ihn von Robban weggerissen hat, obwohl doch alle fanden, dass es dem, also Robban, nur recht geschah, dass er nur kriegte, was er verdiente, und wie ihre Freundin Agneta den Svensson in die Hand biss und wie Britt-Marie anschließend …
Susanne schließt die Augen. Sie erkennt die Geschichte wieder. Kann sie auch fast auswendig. Hat sie sowohl im Aftonbladet als auch in Året Runt und in Allers gelesen. Zuerst einmal im Jahr. Dann etwa alle zehn Jahre. Björn war verschwunden, und das hatte Britt-Marie Samuelsson einen Lebensinhalt gegeben. Hatte sie zu jemandem gemacht. Und jetzt schnieft sie. Hat eine belegte Stimme, wenn auch keine Tränen in den Augen.
»Aber ich bin ja erst einen Monat später zur Polizei gegangen«, sagt sie jetzt. »Und die hat mir nicht geglaubt. Ja, zu dem Schuppen sind sie ja mitgegangen …«
Sie hebt gerade die Hand, um sich den Pony aus dem Gesicht zu streichen, und macht sich bereit, die Geschichte zu wiederholen, noch einmal das zu sagen, was sie bereits gesagt hat, aber Susanne steht auf und sieht sie an, steht stocksteif und gerade vor ihr und bringt sie durch ihr eigenes Schweigen zum Schweigen. Britt-Marie bleibt mit offenem Mund sitzen und wartet, und Susanne lässt sie warten. Sie mustert sie gründlich, von den ungeputzten Stiefeln bis zu dem zerzausten Haar, schüttelt dann langsam den Kopf und sagt:
»Igitt!«
Und geht weg.
Hinterher hat sie über dieses Wort nachgedacht. Was es eigentlich bedeutete. Verachtung natürlich, eine berechtigte Verachtung, da sie Lust wie auch Berechnung in Britt-Maries Gefühlsausbruch zu spüren meinte. Zu dem Zeitpunkt waren fast dreißig Jahre seit den Ereignissen vergangen, aber Britt-Marie war eine Sechzehnjährige geblieben, denn das Wichtigste, was ihr jemals zugestoßen war, das war passiert, als sie sechzehn war; sie hatte nach dem Ruhm gegriffen, ihn angefasst, ihn umschlungen und nicht im Traum daran gedacht, ihn wieder loszulassen. Und dennoch: Unter Susannes Verachtung lag noch etwas anderes. Ein Gefühl der Schuld. Mitleid, wenn nicht Mitgefühl. Mit welchem Recht verachtete sie
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