Eis und Wasser, Wasser und Eis
Schweden starben, da die allermeisten doch an natürlichen Ursachen und in hohem Alter starben. Alles andere waren Einzelfälle, die nicht zählten. Hingegen sollte man im Kopf behalten, dass in Vietnam mehrere Hunderttausende – Junge Menschen! Helden! – im Krieg getötet worden waren, dass über tausend oder noch mehr in nur einer Woche sterben konnten, dass sie vielleicht gerade jetzt, in diesem Augenblick an Napalm verbrannten …
Susanne hatte nicht widersprochen, sie sagte sowieso nichts mehr zu ihren Mitschülern, doch das half nichts. Ingalill kam immer wieder darauf zurück, wie besessen von der Rechenaufgabe, wie viele Menschen jede Stunde, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat in Vietnam starben. Und es ekelte sie an – ja, es ekelte sie richtig! –, wie Leute hier in Schweden herumlaufen und Trübsal blasen konnten, nur weil …
»Susanne Hallgren?«
Ingrid Gunnarsson schien den Tränen nahe. Fast niemand hatte auf ihren Aufruf geantwortet. Aber Susanne, die sich bereits unter den Verdammten befand, schaute auf und antwortete:
»Ja.«
Das Leben ging weiter. Es veränderte, drehte und wand sich um sich selbst, aber es ging weiter. Niemand dachte mehr an Björn Hallgren, nicht einmal die Journalisten. Sie hatten ihre Wochen gehabt, vielleicht einen Monat oder etwas darüber hinaus, in denen sie in Björns Leben das Unterste zuoberst gekehrt und alle, die ihm jemals begegnet waren, interviewt hatten. Eva war genauso berühmt geworden wie die Jungs der Typhoons. Robban ebenso. Nur die Familie hatte sich auf ganz rätselhafte Art und Weise abgeschottet und sich geweigert, auf Fragen zu antworten, doch das änderte nichts. Die Sachlage war ja klar. Björn Hallgren hatte Robban niedergeschlagen und war verschwunden. Das war das Einzige, was man wusste, zumindest bis zu dem Tag, an dem Britt-Marie Samuelsson hervortrat, ihr verweintes Gesicht auf den Titelseiten zeigte und von ihrer Rolle in der Geschichte berichtete, aber der Neuheitswert verpuffte rasch wieder. Die Polizei hatte eine halbherzige Mannschaftssuche um diesen Schuppen herum durchgeführt, aber nichts gefunden. Und langsam versank Björn Hallgrens Name, wurde vergessen und verschwand. Es gab schließlich andere Dinge, die im Frühling passierten, Krawalle in Paris, die Besetzung des Studentenzentrums in Stockholm, die Auflösung – oder Vernichtung, wie Henrik es ausdrückte – der Protestbewegung. Ganz zu schweigen von allem, was in Vietnam passierte. Oder in der Tschechoslowakei. Oder in China.
Susanne seufzte und warf einen Blick über den Klassenraum. Wie immer hatte Ingalill ihr Exemplar von Maos kleinem roten Buch ganz oben rechts auf ihr Pult gelegt. Dort lag es wie ein kleines Gesangbuch oder ein Katechismus, damit sie leicht danach greifen und damit wedeln konnte, wenn zufällig maoistische Sprechchöre in der Klasse entstehen sollten. Dem war zwar nie so, Ingalill hatte ein paarmal den Versuch gemacht, aber es war ihr nie geglückt, Henrik und die anderen mitzuziehen. Dennoch lag es da. Wie eine Waffe. Bereit.
»Erik Östberg?«, fragte Ingrid Gunnarsson. Es kam keine Antwort. Natürlich kam keine Antwort. Henrik lächelte. Ingalill lächelte. Und Erik Östberg saß stocksteif da und starrte stur vor sich hin.
Schniefend klappte Ingrid Gunnarsson das Klassenbuch zu und nahm ihre Aktentasche. Verließ dann den Klassenraum und knallte die Tür hinter sich zu.
Bombay am Morgen. Elsie konnte die Düfte bereits registrieren, bevor sie die Augen aufschlug, diese ganz speziellen indischen Düfte, die durch die offene Lüftung in ihre Kabine drangen. Kräftige Gewürze. Dichte Abgase, schwer wie Blei, die ihr bald diese speziellen Kopfschmerzen verursachen würden. Und – sie schnupperte – ein Hauch von Orangen.
Gleich darauf fiel ihr ein, wer sie war und warum sie hier war. Die Düfte verschwanden. Oder wurden zumindest bedeutungslos. Trotzdem öffnete sie nicht die Augen und schaute sich nicht um, fiel nicht auf die Knie nieder und kroch über den Boden, wand sich nicht als die Schlange, die sie war, zur Toilette und zur Dusche. Sie blieb nur liegen, mit geschlossenen Augen, hörte noch einmal auf ihren inneren Ankläger, der jeden Morgen mit seiner Klageschrift begann. Und sie antwortete wie immer. Gestand.
Ja. Sie war eine schlechte Mutter gewesen. Geradezu erbärmlich.
Ja. Sie hatte ihren Sohn im Stich gelassen, indem sie ihn verlassen hatte und zur See gefahren war.
Ja. Ganze Tage waren vergangen, an denen sie nicht
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