Eis und Wasser, Wasser und Eis
dem Svandammen zu, ein Buch unter dem einen und eine kleine Decke unter dem anderen Arm; sie hatte einen Platz unter einer alten Weide gefunden, an dem sie sich vor der Welt verstecken konnte. Es war, als säße sie geschützt in einem Vogelbauer, einem magischen Käfig, der es ihr ermöglichte, die Menschen zu sehen, die auf der anderen Seite der herabhängenden Zweige vorbeigingen, sie selbst jedoch unsichtbar machte. Manchmal vergaß sie ihr Buch und versank in Träume. Wenn nun jemand – ein Junge, der bald in der Oberstufe anfangen würde, beispielsweise – eines Tages den Weidenvorhang beiseiteschieben und sie entdecken würde …
Aber der Junge kam natürlich nie. Er nahm einen anderen Weg und fand stattdessen ihre Schwester.
Inez blinzelte. Das Telefongespräch war offensichtlich beendet. Björn stand lächelnd in der offenen Tür.
»Mama und ich werden uns in London treffen!«
Inez wrang sorgfältig das Wischtuch aus, obwohl das gar nicht nötig war, und hängte es über den Wasserhahn. Die Haut auf ihren Wangen spannte, während sie das Lächeln erwiderte.
»Wirklich? Wie schön.«
»Ich werde Karl-Erik anrufen und ihn bitten, für sie ein Zimmer in unserem Hotel zu besorgen.«
»Das klingt ja schön. Schließlich ist es lange her, dass ihr euch gesehen habt.«
»Ja. Sie hatte keine Ahnung, dass ich …«
»Nein. Natürlich nicht. Aber sie hat sich doch sicher gefreut?«
»Klar. Aber sie macht sich ein wenig Sorgen wegen der Sache mit der Schule.«
»Ja, jaja. Aber sie selbst hat ja auch vor dem Abitur abgebrochen.«
»Ja. Und ich habe ihr gesagt, dass es jetzt ja auch Gymnasien für Erwachsene gibt.«
»Wusste sie das nicht?«
Falsche Antwort. Björn witterte Kritik.
»Woher sollte sie das denn wissen?«
Inez versuchte erneut zu lächeln.
»Ich meinte nur …«
»Ach«, wehrte Björn ab und drehte ihr den Rücken zu. »Ich gehe eine Weile raus. Ich brauche frische Luft.«
Inez blieb stehen und lehnte sich an den Spültisch. Plötzlich war sie nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Aber sie konnte ihre Stimme noch erheben:
»Kannst du das? Kannst du wirklich rausgehen?«
»Natürlich kann ich das«, erwiderte Björn aus dem Flur. »Sie sind ja jetzt weg. Alle.«
Und dann öffnete er die Haustür und verschwand.
Ingalill wartete am Midhemsvägen, genau wie sie verabredet hatten, aber sie drehte Susanne den Rücken zu und ging bereits los, bevor diese bei ihr angelangt war.
»Wir müssen uns beeilen«, rief sie über die Schulter. »Es ist schon fünf vor halb.«
Susanne begann zu laufen. Ihre Schultertasche schlug gegen die Hüfte.
»Ich weiß. Aber da waren so viele Mädchen …«
Ingalill blieb stehen und drehte sich um.
»Was für Mädchen?«
Susanne hatte sie endlich eingeholt. Sie blieb auch stehen und schnappte nach Luft, dann passte sie sich Ingalills Schritt an. Was nicht so einfach war. Ingalill war größer und machte größere Schritte.
»Einfach eine Menge Mädchen. Die vor unserem Haus standen.«
Ingalill runzelte die Stirn.
»Wer war dabei?«
Susanne zuckte mit den Schultern.
»Die aus dem Kiosk am Bahnhof. Und die vom altsprachlichen Zweig mit dem Männerregenschirm. Und noch ein paar. Ich weiß nicht, wie sie heißen.«
»Was wollten die vor eurem Haus?«
Susanne ging langsam die Luft aus.
»Sie haben auf Björn gewartet.«
»Warum denn?«
Warum? Na, das war vielleicht eine Frage.
»Was weiß ich.«
Eine Weile schwiegen beide. Nur ihre Schritte auf dem Asphalt waren zu hören.
»Ich möchte wissen, ob sie sich heute Abend an den Lehrplan hält«, sagte Ingalill zum Schluss.
Susanne zuckte mit den Schultern.
»Das ist doch egal.«
»Wenn man einen Kursus gibt, dann sollte man sich an den Lehrplan halten.«
»Aber alle finden es doch viel schöner, sich zu schminken.«
»Das gehört nicht hierher«, sagte Ingalill.
Susanne verzog hinter ihrem Rücken das Gesicht. Sie waren angekommen, und Ingalill war bereits auf dem Weg die Treppe hinunter in die Kellerräume, die ABF für »Fräulein Frisch« gemietet hatte. Es war ein sehr beliebter Kursus, so beliebt, dass man zwei Gruppen hatte bilden müssen und für den nächsten Kurs eine Warteliste eingerichtet hatte.
Frau Salomonsson hatte nur an zwei Abenden in der Woche Zeit, den Kurs zu leiten. Schließlich musste sie sich ja um ihre Parfümerie kümmern. Außerdem war sie keine normale Kursleiterin, das merkte man. Bereits am ersten Abend hatte sie nur kurz den Lehrplan durchgeblättert und ihn
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