Eis und Wasser, Wasser und Eis
sein. Zumindest meistens. Also beugt er sich näher über den Schirm und liest die Mail seiner Schwester:
»Hallo lieber Bruder. Tut mir leid, dich noch einmal stören zu müssen, aber ich wollte dir nur mitteilen, dass Eva vor einer Weile angerufen hat und von mir wissen wollte, wo du bist. Sie hat mir erzählt, dass ihr euch getrennt habt. Mit ziemlich scharfer Stimme, wenn man das so sagen kann. Was ist denn passiert? Ich habe ihr deine Mailadresse gegeben. Hoffe, das ist okay. Pass auf dich auf und lass von dir hören, wenn du kannst. Lisbeth.«
Aha. Das erklärt so einiges. Hinter ihm stöhnt Robert wieder, aber Anders dreht sich nicht um, schaut nicht nach, lässt nur den Cursor eine Zeile tiefer gleiten.
»Lieber Anders. Habe deine Adresse von deiner Schwester. Wo bist du eigentlich? Und wann kommst du nach Hause? Es gibt Dinge, über die wir reden sollten. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich so bald wie möglich anrufen könntest. Oder auf diese Mail antworten. Oder mir zumindest eine Telefonnummer mailen, unter der ich dich erreichen kann. Das ist wichtig! Es ist nicht immer alles das, wonach es aussieht. Liebe Grüße. Eva.«
Robert stöhnt erneut auf. Ohne lange zu überlegen, steht Anders auf und tritt ans Bett. Robert schläft immer noch, aber das weiße Morgenlicht von dem Bullauge der Kajüte scheint direkt auf seine untere Gesichtshälfte. Die Haut ist grau und bleich und der Hals sieht körnig aus. Ja. Anders nickt vor sich hin wie ein Erwachsener, der aufmunternd den Beobachtungen eines Kindes zustimmt. Das ist der richtige Ausdruck. Das trifft es auf den Punkt. Es sieht tatsächlich so aus, als hätte jemand dagesessen und zehntausend kleine Körner – Sagokörner vielleicht oder Reiskörner – in die weiße Haut unter Roberts Bartstoppeln eingenäht. Das ist wohl das Alter. Vielleicht hat er in einem bestimmten Licht die gleichen Körner unter dem Kinn. Er zieht die Gardine vor und betrachtet Robert noch einmal. Die weiße Haut wird rosa von der Farbe der Gardine. Und die Körner sind weg. Fast ganz weg.
Er geht zurück an den Computer und schiebt den Cursor auf die nächste Zeile.
»Anders! Warum antwortest du nicht? Es ist jetzt schon mehrere Stunden her, seit ich das letzte Mal gemailt habe, und du hast immer noch nicht geantwortet. Hoffentlich ist alles in Ordnung mit dir …«
Anders schaut unwillkürlich auf seine Uhr. Zehn vor fünf. Was bildet sie sich ein? Dass er die ganze Nacht hindurch am Computer sitzt und auf ihre Mail wartet?
»… und dass du nicht glaubst, dass ich nur Ärger machen will. So ist es nicht. Definitiv nicht. Ich finde nur, wir sollten uns aussprechen über das hier, bevor wir irgendwelche Entscheidungen treffen. Wir haben ja trotz allem mehr als fünfundzwanzig Jahre zusammengelebt, und ich möchte nicht, dass wir Feinde werden. Oder keine Freunde mehr sind. Ich möchte, dass wir Freunde bleiben, dass wir wie vernünftige Menschen miteinander reden und wirklich das sagen können, was wir auf dem Herzen haben. Deine Eva.«
Anders lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, starrt die Wand an und fährt sich mit der Hand übers Kinn. Er muss sich rasieren. Das kommt ihm in den Sinn. Das ist alles, woran er im Augenblick denken kann.
Nach einer Weile schaltet er den Computer aus, klappt ihn zu und steht auf, schiebt geräuschlos den Stuhl unter den Schreibtisch und macht ihn fest, bleibt dann an der Stirnseite des Krankenbetts stehen und starrt wieder vor sich hin, versucht einen Gedanken zu fassen.
Was wollte er noch?
Sich rasieren.
Genau, das war es.
Im nächsten Augenblick steht er im Badezimmer und sieht sich selbst in die Augen. Sein Blick sieht aus wie immer, möglicherweise könnte man sagen, dass die Pupillen eine Spur zu groß sind. Was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie dunkel es in der Kajüte ist, aber er meint sogar sehen zu können, wie sie sich zusammenziehen, wie sie sich mit jeder Sekunde um einen Zehntelmillimeter im Licht der Badezimmerlampe verkleinern …
Nein. Er muss sich zusammenreißen.
Er greift nach der Sprayflasche mit Rasierschaum und sprüht sich welchen in die Hand, während er ein paarmal tief durchatmet. Sie hat also von sich hören lassen. Nach – wie lange ist es jetzt her? – gut vier Wochen hat sie endlich von sich hören lassen. Großartig. Nach dem Tag, als er in ein Haus mit vier leeren Schränken zurückkam, einer geleerten Vitrine – was darin gestanden hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern – und
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