Eis und Wasser, Wasser und Eis
nicht. Er scheint das nicht zu merken, nimmt zwei Stufen auf einmal und ist schon neben ihr auf dem Vorderdeck.
»Das kommt nicht oft vor«, sagt er lächelnd.
»Nein«, nickt Susanne.
Es ist leer auf dem Vorderdeck, aber in den Labors brennt Licht. Jemand bewegt sich da drinnen. Ein Doktorand vermutlich, zu schüchtern oder zu ehrgeizig, um mit den anderen unten in der Bar zu feiern. Als sie den Bug erreichen, stellen sie sich ein Stück voneinander entfernt jeweils auf ein Trittbrett.
»Der letzte freie Abend«, sagt John nach einer Weile.
Susanne nickt, sieht ihn jedoch nicht an, sie richtet ihren Blick auf den dunklen Schatten am Horizont. Offenbar eine Insel. Mit kleinen weißen Würfeln unten am Strand. Das müssen Häuser sein. Vielleicht sogar große Häuser. Wie Scheunen. Oder kleine. Wie die Häuser in den Schrebergärten in Landskrona. Das ist nicht zu erkennen. Der Abstand ist zu groß, und es gibt nichts, woran man sie messen könnte. Nicht einen Baum. Nicht einen Strauch.
John spricht weiter:
»Ab morgen muss ich den Computer Tag und Nacht überprüfen.«
Der Einwand rutscht ihr heraus:
»Das geht doch gar nicht.«
Er wendet sich ihr lächelnd zu.
»Nein. Ich habe ja noch ein paar Doktoranden. Wir wechseln uns ab.«
Sie wirft ihm einen schnellen Blick zu.
»Was ist das für ein Computer?«
»Ein Grundcomputer. So könnte man es wohl bezeichnen. Ich soll Karten von dem Meeresgrund im Peel Sound oder Viscount Melville Sound erstellen. Welchen Weg wir nun auch einschlagen. Aber eigentlich geht es nur darum, die Ausrüstung zu testen. Das Wichtige sind die Karten hinten beim Lomonossow-Rücken.«
Sie wendet sich ihm ganz zu, vergisst ihre Vorsätze.
»Das möchte ich sehen.«
»Na klar.«
Er nickt und tritt näher, lässt dann seine Kippe ins Meer fallen. Zuerst schwimmt sie, dann verschwindet sie unter einer Scholle. Susanne versucht ihre Wut wieder in den Griff zu bekommen, was ihr aber nicht ganz gelingt. Sie tritt auch einen Schritt zur Seite, um den Abstand zwischen ihnen wieder zu vergrößern, und betrachtet die Kippe, die sie in der Hand hält. Noch ein Zug. Oder zwei. Dann wird sie sie ins Meer fallen lassen, in dieses eisengraue Meer mit seinen weißen Schollen, und sie wird hunderte, vielleicht tausende Meter hinabsinken, bis sie einen Meeresgrund erreicht, von dem Susanne nichts weiß. Vielleicht aus Kies. Oder Sand. Oder eine ganz andere Welt voller Gewächse und Wesen, die kein Menschenauge je gesehen hat. Durchsichtig. Phosphoreszierend. Geleeartig. Wesen mit riesigen Mäulern, deren einzige Funktion es ist zu fressen, bis zu dem Augenblick, in dem sie selbst gefressen werden. Kleine, rote, wurmartige Dinge, die sich auch nach Millionen von Jahren noch nicht haben entscheiden können, ob sie Pflanzen oder Tiere sind. Dunkelblaue Quallen, durch die Finsternis schwebend, blinkend wie kleine Leuchtfeuer.
»Guck mal«, sagt John plötzlich. »Siehst du?«
»Was denn?«
»Das Licht. Jemand geht da mit einer Lampe herum. Drüben auf der Insel.«
Sie richtet ihren Blick auf die Insel. Das Licht ist ganz deutlich, man sieht es in etwas schaukeln, das die Hand eines Menschen sein muss. Aber der Mensch, der es trägt, den sieht man nicht. Da ist nur ein kleines Licht, das sich auf dem Weg zum Strand hinunterbewegt. Auf dieser Insel gibt es keine Lebewesen. Abgesehen von den Menschen natürlich. Eine kleine Gruppe Inuit, die in einer Stadt mitten im Nichts leben. Einer Stadt mit dem Namen Entschlossenheit. Resolute.
Susanne und John stehen schweigend da und sehen, wie sich das kleine Licht bewegt, folgen seiner Wanderung durch die graue Dämmerung hinunter zu dem dunklen Strand, sehen es eine Weile am Ufer hin- und hergleiten, um dann wieder langsam den Hügel hinaufzuschaukeln. Plötzlich ist es fort.
Susanne dreht sich um, schaut John an. Er spürt ihren Blick und erwidert ihn. Ein Gedanke blitzt auf, vielleicht denken sie ihn gleichzeitig. Was mache ich hier mit diesem Fremden?
Beide machen unwillkürlich einen Schritt zurück. Susanne schiebt die Hände in ihre Jackenärmel. John zieht den bereits geschlossenen Reißverschluss noch höher, als wollte er sichergehen, dass seine Kehle nicht zu sehen ist. Susanne lächelt kurz.
»Nun«, sagt sie dann und tritt ein wenig von einem Fuß auf den anderen. »Nun ist es wohl langsam Zeit, hineinzugehen und sich schlafen zu legen. Vielen Dank für die Begleitung.«
Johns Blick flackert.
»Gleichfalls vielen Dank«, sagt er dann.
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