Eis und Wasser, Wasser und Eis
unsicher.
»Wahrscheinlich gibt es schon Weihnachtsbeleuchtung …«
Susanne lehnte sich ans Treppengeländer.
»Ich habe keine Lust, Schaufenster anzugucken.«
»Wir können ja die Linje entlanggehen.«
Susanne zuckte mit den Schultern.
»Von mir aus.«
Sie gingen schweigend nebeneinander in die Dunkelheit hinaus, sagten kein Wort, bis sie die erste Straßenlaterne auf Linjen erreicht hatten.
»Du hast heute nicht angerufen«, sagte Ingalill.
Susanne warf ihr einen kurzen Blick zu, aber Ingalill sah sie nicht an. Sie ging leicht vornübergebeugt, als wollte sie ihre Größe kaschieren, und ihr Haar wehte im Wind. Warum hatte sie so eine Jungsfrisur? Warum versuchte sie gar nicht erst auszusehen wie normale Mädchen?
»Nein«, antwortete Susanne und biss sich auf die Unterlippe. Das war die falsche Antwort. Fast, als würde sie zugeben, dass etwas passiert war. Sie schob die Hände in die Taschen ihres Parkas und suchte nach einem Ausweg. Es gab keinen. Sie musste es durchstehen.
»Ich habe gewartet«, sagte Ingalill. Ihre Stimme war jetzt kräftiger. Sie klang nicht mehr so unsicher. Aber Susanne hatte nicht vor, sich ins Bockshorn jagen zu lassen.
»Und warum hast du dann nicht angerufen?«
»Habe ich. Aber bei euch ist niemand rangegangen.«
Eine Weile schwiegen wieder beide. Nichts war zu hören als ihre Schuhsohlen, die über den Kies knirschten.
»Stimmt«, sagte Susanne schließlich. »Ich war eine Weile weg.«
Wieder eine lange Pause. Ingalill wartete, dass sie es erklären würde. Aber das hatte sie nicht vor. Ingalill sollte gezwungen sein zu fragen. Auch wenn es ihr noch so schwerfiel.
»Wo warst du?«, fragte sie schließlich.
Susanne tat so, als hätte sie nicht verstanden.
»Entschuldige«, sagte sie. »Was hast du gesagt?«
Ingalill zischte:
»Ich habe gefragt, wo du warst!«
Jetzt war Ingalill wieder ganz die Alte. Der gleiche leicht höhnische Ton wie immer. Susanne spürte, wie sich die Kälte in ihrem Körper ausbreitete. Das war nicht die normale Winterkälte, sie hatte nichts zu tun mit dem kalten Wind vom Öresund oder mit der Tatsache, dass sie ihre Handschuhe vergessen hatte. Das hier war etwas anderes. Eine ganz neue Art von Kälte, die das Rückgrat hinaufkroch, im Bauch kitzelte und plötzlich den Kopf ausfüllte. Sie hatte Angst. Aber nicht so viel wie früher. Genau genommen hatte sie weniger Angst als jemals zuvor. Sie warf den Kopf zurück.
»Ich war Kaffee trinken. Mit Eva.«
»Welche Eva?«
Sie zierte sich. Ingalill wusste nur zu gut, welche Eva es war.
»Eva Salomonsson.«
Ingalill erwiderte nicht sofort etwas, stattdessen bog sie ab, auf einen kleinen Pfad, der zu einem Aussichtsplatz am Meer führte. Susanne folgte ihr mit schnellen Schritten, damit sie wieder an ihre Seite kam. Nie wieder wollte sie zwei Schritte hinter Ingalill hertrotten. Die Zeiten waren vorbei. Das Licht um sie veränderte sich, es gab keine Straßenbeleuchtung, aber hier schien es, als leuchtete das Meer, als verbreitete es ein graues Dämmerlicht über den schmalen Weg, den sie entlanggingen. Auf der anderen Seite des Wassers funkelte Kopenhagen. Eine andere Welt. Ein Hauch von Sehnsucht keimte in Susanne auf, sie wollte dorthin, sie wollte achtzehn sein und groß genug, um an einem Abend wie diesem nach Kopenhagen zu fahren …
»Dir ist doch wohl klar, dass sie dich ausnutzt?«
Ingalill war stehen geblieben. Sie hatte sich halb abgewandt und schaute übers Wasser. Susanne ging einen Schritt weiter. An Ingalill vorbei. Stellte sich vor sie und versperrte ihr die Aussicht.
»Was meinst du damit?«
Ihre Stimme klang nicht wie sonst. Es war eine erwachsene Stimme. Eine Lehrerinnenstimme. Sie holte tief Luft, um weiterzusprechen, aber Ingalill kam ihr zuvor.
»Nun ja, dir ist doch wohl klar, dass Eva Salomonsson niemals mit dir Kaffee trinken gegangen wäre, wenn du nicht Björn Hallgrens Schwester wärst.«
Susanne wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie drehte sich nur um und richtete ihren Blick wieder auf Kopenhagen. Weigerte sich, Ingalill anzusehen.
»Und dir ist ja wohl klar, dass sie bereits wusste, wer du bist, bevor sie ihre Mutter zu diesem Kursus begleitet hat. Oder? Und dass sie dich deshalb beim Schminken ausgesucht hat. Damit sie sich hinterher an dich ranmachen konnte. Um Björn kennenzulernen. Was ihr ja auch geglückt zu sein scheint.«
Susanne biss sich auf die Lippen, sagte aber immer noch nichts.
»Du bist so arrogant geworden«, sagte Ingalill
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