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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Majgull Axelsson
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hinter ihrem Rücken. »Merkst du das eigentlich? Verdammt arrogant. Aber wie kommst du drauf, dass du einen Grund für Arroganz hättest? Hä? Du bist es doch nicht, die in den Top Ten gelandet ist. Oder nach England reisen darf.«
    Susanne stand reglos da. Jeder einzelne Muskel ihres Körpers war angespannt, die Hände steckten zu Fäusten geballt in den Taschen, der Rücken war steif wie ein Besenstiel. Aber sie hatte keine Tränen in den Augen. Zum ersten Mal in ihrem Leben nahm sie Ingalills Wahrheiten entgegen, ohne dass ihr die Tränen aufstiegen. Ingalill senkte ihre Stimme, jetzt flüsterte sie fast. Voller Verachtung.
    »Ich habe ja immer gewusst, dass du nicht besonders schlau bist«, sagte sie. »Das war mir schon klar. Aber dass du so dumm sein kannst, dass du plumpe Einschmeichelei nicht erkennst, das hätte ich nicht von dir gedacht.«
    Susanne schloss ein paar Sekunden lang die Augen und wusste, dass nichts mehr sein würde wie zuvor, wenn sie sie wieder öffnete. Einen Moment lang grämte sie sich über sich selbst und ihr eigenes Leben, über das, was sie gewesen war und was sie werden musste, sah ihr eigenes kindliches Mitleid mit Ingalill wie einen Schneekristall schmelzen und sich in einen Tropfen Wasser verwandeln, einen kleinen Tropfen, der schnell verdampfte und verschwand. So. Jetzt war er fort. Sie öffnete die Augen, blieb eine Sekunde lang reglos stehen, bevor sie sich umdrehte.
    »Wie oft hast du mich schon als dumm bezeichnet?«
    Ingalill kam aus dem Konzept. Sie war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden.
    »Weißt du das? Vielleicht genauso oft, wie dein Vater deine Mutter als dumm bezeichnet hat?«
    Da fiel der erste Stein in der Mauer, in dieser Mauer des Schweigens, die Ingalills Geheimnisse umschlossen hatte, seit sie in die erste Klasse gingen. Susanne konnte zusehen, wie es geschah: Sie sah, wie ein dunkelroter Ziegelstein zersplitterte und zu Pulver zerfiel, wie sich die Risse auf die anderen Steine übertrugen, wie diese Sekunden später bröckelten und fielen, und plötzlich lag all das, was bisher geheim gewesen war, offen zutage. Ingalills Vater war nicht länger ein Held, der Shakespeare zitieren konnte und der sich bewusst dafür entschieden hatte, einer oberflächlichen Karriere und materiellen Dingen zu entsagen. Sondern ein arbeitsloser Alkoholiker, ein vollgeschissener Säufer, der mit den anderen Säufern im Theaterpark herumsaß. Ein Kerl, der außerdem Ingalills Mutter schlug, der sie einmal so übel zugerichtet hatte, dass sie fast gestorben wäre. Ingalill hatte ihr das nie verziehen. Die Scheidung auch nicht. In Ingalills Welt war ihr Papa Opfer der Gemeinheiten ihrer Mutter. Aber jetzt existierte diese Welt nicht länger. Susanne hatte ein Loch in die Mauer geschlagen, und Ingalill hatte dabei zugesehen. Das war ihrem Gesicht abzulesen, als sie schnell einen Schritt zurücktrat. Susanne musste grinsen, es war ein hässliches Grinsen, das konnte sie selbst spüren. Eine Mimik, die sie hässlich machte. Und gefährlich. Richtig gefährlich. Sie verwandelte das Grinsen in ein Lächeln:
    »Hat er das nicht immer gebrüllt? Hä? Bevor er sie verprügelt hat? Dass sie dumm ist?«
    Susanne ging einen Schritt näher. Ein Gedanke blitzte auf. Plötzlich stellte sie fest, dass Ingalill nicht mehr so viel größer war als sie selbst. Susanne reichte ihr bis zum Kinn. Aber das lag vielleicht daran, dass nicht mehr sie sich duckte, sondern Ingalill.
    »Ich habe ihn einmal gehört. Als du pinkeln warst. Und du klingst genau wie er. Weißt du das? Vielleicht wirst du mal wie er … Aber es kann ja sein, dass du gar nichts dagegen hast. Dein Vater ist ja so genial.«
    Sie lachte laut auf:
    »Das hast du mir doch so oft erzählt. Aber ehrlich gesagt, er klang nicht so furchtbar genial, als die Polizei ihn im Herbst aufgegriffen hat … Er klang einfach nur besoffen. Hat geflucht und geschrien und so. Kein Wort von Shakespeare.«
    Ingalill wich noch einen Schritt zurück, aber Susanne folgte ihr.
    »Ich bin da gerade vorbeigegangen. Mit meiner Mutter.«
    Ingalills Stimme zitterte:
    »Das ist nicht wahr!«
    Susanne konnte ihr Lächeln nicht unterdrücken:
    »Doch. Natürlich ist das wahr. Wir waren gerade beim Theater. Aber ich habe meiner Mutter versprechen müssen, dir nichts davon zu sagen. Weil du einem so leidtun kannst. Deshalb habe ich nichts gesagt.«
    »Du lügst.«
    Ingalills Stimme war scharf geworden. Fast schrill. Das hatte einen merkwürdigen Effekt auf Susanne,

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