Eisberg
nicht.«
»Sie können darauf zählen«, murmelte Pitt. Er wandte sich ab. Die widersprüchlichsten Gefühle und Vorstellungen bewegten ihn. Doch allmählich klärten sich seine Gedanken. Er konzentrierte sich ganz auf das, was ihn vorwärtstrieb: unbändiger Haß, der in ihm schwelte, seit Rondheim zu seinem ersten mörderischen Schlag ausgeholt hatte. Ehe er sich in Bewegung setzte, hielt ihn noch einmal die leise Stimme des russischen Diplomaten Tamareztov auf, der sagte: »Das Herz eines guten Kommunisten ist mit Ihnen, Major Pitt.«
Pitts Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Ich fühle mich sehr geehrt. Es passiert selten, daß sich ein Kommunist von einem Kapitalisten das Leben retten lassen muß.«
»Eine bittere Pille für mich.«
Pitt verharrte einen Augenblick und sah Tamareztov prüfend an. Dessen Arme lagen kraftlos auf dem Boden, und das linke Bein war in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt. Da wurden Pitts Züge weich. Er sagte: »Ich werde Ihnen eine Flasche Wodka mitbringen.«
Bevor noch der verdutzte Russe etwas erwidern konnte, wandte er sich ab und begann die Hänge der Schlucht emporzuklettern.
Pitt krallte sich in die weiche, glitschige Erde. Vorsichtig zog er sich hoch, Zentimeter um Zentimeter, um seine gebrochenen Rippen nicht zu sehr zu belasten. Sein Blick war starr nach oben gerichtet. Die ersten sechs Meter waren kein Problem. Doch dann wurde die Wand steiler und der Boden felsiger. Pitt fand kaum mehr Ritzen und Löcher im Fels, in die er seine geschwollenen Finger hätte einkrallen oder wo er einen Halt für seine Zehen hätte finden können.
Der Aufstieg wurde mörderisch. Pitt verlor jegliches Gefühl. Seine Bewegungen liefen wie von selbst ab; einkrallen, hochziehen, einkrallen, hochziehen. Er versuchte jeden Meter, den er an Höhe gewann, mitzuzählen; doch schon nach dreißig Metern ließ er es. In seinem Kopf herrschte völlige Leere.
Er glich einem Blinden, der sich bei Tageslicht durch eine dunkle Welt vorantastet. Zum erstenmal verspürte er Angst – nicht die Angst, abzustürzen oder sich zu verletzen, sondern die abgründige, kalte Angst, den Tod von über zwanzig Menschen zu verschulden, wenn er diesen unendlich fernen Rand zwischen Himmel und Erde nicht erreichte. Minuten vergingen; sie kamen ihm wie Stunden vor. Wie viele? Er wußte es nicht, würde es nie wissen. Die Zeit hatte jedes Maß für ihn verloren. Sein Körper war nur noch ein Automat, der wieder und wieder dieselben Bewegungen vollführte, ohne daß das Gehirn noch die Befehle dazu erteilte.
Erneut begann er zu zählen; doch diesmal hörte er schon bei zehn auf. Er gönnte sich eine Minute Rast, nicht mehr; dann kletterte er weiter. Sein Atem ging keuchend, seine Finger waren aufgerissen, die Nägel abgebrochen und seine Arme wurden von schmerzhaften Krämpfen geschüttelt – ein sicheres Zeichen, daß er am Ende war. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht, doch das irritierende Kitzeln drang gar nicht in sein Bewußtsein. Er pausierte abermals und sah nach oben, konnte aber, weil seine Augen total zugeschwollen waren, kaum mehr etwas erkennen. Der Rand der Schlucht verschwamm zu einem schattenhaften Streifen; er konnte unmöglich sagen, wie weit es noch war.
Doch plötzlich hatte er es geschafft. Er griff über den weichen, bröckeligen Rand des Abgrundes. Mit einer Kraft, die ihn selbst verwunderte, zog er sich hinauf. Er rollte sich auf den Rücken und lag dann regungslos da, wie tot.
Fast fünf Minuten lang blieb er so liegen. Nur seine Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Als die Wogen der totalen Erschöpfung abgeebbt und seine Kräfte wieder einigermaßen zurückgekehrt waren, erhob er sich langsam und starrte in den Abgrund zu den winzigen Gestalten hinunter. Er formte seine Hände schon zu einem Trichter, um ein paar Worte hinunter zutrügen; doch dann entschied er sich anders. Ihm kam nichts in den Sinn, was zu rufen irgendeinen Wert gehabt hätte. Alles, was die Menschen dort in der Tiefe sehen konnten, waren sein Kopf und seine Schultern, die über den Rand der Schlucht ragten. Er winkte ihnen ein letztesmal zu und verschwand.
18. Kapitel
Wie ein einsamer Baum stand Pitt auf der endlosen, leeren Ebene. Viele Kilometer weit war nichts zu sehen als ein dichter Teppich aus dunkelgrünen, moosähnlichen Pflanzen, die den Erdboden bedeckten. Da wurde auf der einen Seite die Ebene durch eine hohe Hügelkette begrenzt, auf der anderen verschwand sie in einem
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