Eisberg
richtete er sich weiter auf, bis er sich umschauen konnte.
Was er erblickte, schien eine Szene aus einem Alptraum zu sein. Lange starrte er auf das unwirkliche Bild, dann sah er Tidi und Lillie an. In seinem Gesicht stand fassungsloses Entsetzen. Nur langsam begann er zu ahnen, wo sie sich befanden. Er tastete nach einem Halt und stammelte: »Um Gottes willen, das ist unmöglich!«
Sekundenlang herrschte jenes Schweigen, das die Dichter so gern als bedeutungsschwanger bezeichnen. Pitt saß wie versteinert da und starrte auf den zerschellten Hubschrauber, dessen Trümmer in einer Entfernung von knapp hundert Metern lagen. Die scharfkantigen Bruchstücke des Wracks waren halb im Schlamm versunken, und rings herum ragten die überhängenden Wände einer tiefen Schlucht auf, die sich in dreißig Metern Höhe zu berühren schienen. Er bemerkte, daß es sich um einen großen Hubschrauber gehandelt hatte, wahrscheinlich ein Modell der Tian-Klasse, das dreißig Passagieren Platz bot. Welche Farbe oder welche Kennzeichen es einmal gehabt hatte, war nicht mehr festzustellen. Der größte Teil des Rumpfes war wie eine Ziehharmonika zusammengepreßt, und vom Rahmen war nur noch ein Gewirr verbogenen Metalls übrig.
Der erste furchtbare Gedanke, der Pitt in seiner Bestürzung kam, war, daß kein Mensch diesen Absturz überlebt haben konnte. Aber es gab sie alle noch: Pitt, Tidi, Lillie; und am Fuß der Felsenhänge lagen, schmerzverkrümmt, all die Männer, die in Rondheims Jagdzimmer neben Pitt gestanden und die Gegenpartei zu F. James Kelly und der Eremit Ltd. gebildet hatten.
Alle schienen noch am Leben zu sein, doch die meisten waren schwer verletzt; ihre komisch abgeknickten Beine und Arme ließen auf grauenhafte Brüche und Quetschungen schließen.
»Es tut mir leid, daß ich fragen muß«, murmelte Pitt. Seine Stimme war heiser, aber er hatte sie wieder in seiner Gewalt. »Aber … was zum Teufel ist passiert?«
»Nicht das, was du glaubst«, erwiderte Lillie.
»Was denn dann? Offensichtlich … wollte uns Rondheim irgendwohin entführen, aber die Maschine stürzte ab.«
»Wir sind nicht abgestürzt«, widersprach Lillie. »Das Wrack liegt schon seit Tagen, vielleicht sogar Wochen hier.«
Pitt starrte Lillie ungläubig an. Lillie hatte es sich auf dem feuchten Untergrund bequem gemacht, ohne Rücksicht darauf, daß er durch und durch naß wurde. Pitt sagte zu ihm: »Bitte kläre mich auf. Was ist diesen Leuten zugestoßen? Wie kommst du hierher? Ich möchte alles ganz genau wissen.«
»Über mich gibt's nicht viel zu erzählen«, erwiderte Lillie ruhig. »Rondheims Männer haben mich geschnappt, als ich am Albatros-Kai herumschnüffelte. Bevor ich auch nur das geringste entdeckt hatte, hatten sie mich schon zu Rondheims Haus geschleppt und zu diesen anderen Herrschaften hier verfrachtet.«
Pitt machte eine Bewegung auf Lillie zu. »Du siehst ziemlich übel zugerichtet aus. Laß mich mal sehen.«
»Hör dir meine Geschichte zu Ende an!« erstickte Lillie Pitts Samariterdrang. »Dann mach dich um Himmels willen auf den Weg und hol Hilfe. Keiner von uns ist so schwer verletzt, daß er sofort daran stürbe – darauf hat Rondheim strikt geachtet. Aber keiner kann sich vom Fleck bewegen. Was wir am meisten zu fürchten haben, ist Unterkühlung. Die Temperatur beträgt jetzt schon kaum acht Grad. Noch ein paar Stunden, und es friert. Dann werden die Kälte und der Schock die ersten von uns fertigmachen. Und morgen früh gibt es in dieser gottverdammten Schlucht nur noch gefrorene Leichen.«
»Rondheim hat strikt darauf geachtet? Ich fürchte …«
»Verstehst du nicht? Sie haben wirklich eine lange Leitung, Major Pitt. Es ist doch klar, daß kein Unfall die Ursache dieses Gemetzels war. Gleich nachdem dich dein sadistischer Freund Rondheim zu Mus geschlagen hatte, wurde jedem von uns eine große Dosis Nembutai verabreicht. Dann haben sich Rondheim und seine Männer ganz kaltblütig und methodisch einen nach dem anderen von uns vorgeknöpft und uns alle Knochen gebrochen, damit es so aussieht, als wären wir bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen.«
Pitt sah Lillie entgeistert an. Er konnte und wollte einfach nicht fassen, was Lillie ihm da erzählt hatte. In seiner derzeitigen Verfassung wäre er bereit gewesen, so ziemlich alles zu glauben; doch was Lillie ihm berichtet hatte, war zu makaber, zu ungeheuerlich, als daß man es hätte begreifen können.
»Mein Gott, es ist unmöglich!« Pitt schloß
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