Eisberg
den Funkgeräten war nichts als ein zusammengeschmolzener Metallklumpen und ein paar verspritzte Tropfen von verfärbtem Lötzinn übrig. Pitt und Hunnewell hatten sich inzwischen an den infernalischen Gestank und die seltsam verkohlte Umgebung gewöhnt; aber sie waren nicht im geringsten auf die grauenhaft verwüstete Gestalt eines Menschen auf dem Deck vorbereitet.
»Um Gottes willen!« keuchte Hunnewell. Er ließ seine Taschenlampe fallen. Sie rollte über das Deck und blieb vor den entsetzlich entstellten Überresten eines Kopfes liegen. Zwischen Fetzen verbrannten Fleisches lagen Schädeldecke und Zähne bloß.
»Ich beneide ihn nicht um seinen Tod«, murmelte Pitt.
Der grauenvolle Anblick war zuviel für Hunnewell. Er wankte in eine Ecke und übergab sich.
Als er sich endlich wieder zu Pitt gesellte, sah er aus, als käme er geradewegs aus dem Grab.
»Tut mir leid«, sagte er stumpf. »Ich habe bisher noch nie einen verbrannten menschlichen Körper gesehen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie so etwas aussieht – ich habe auch nie darüber nachgedacht. Es ist kein schöner Anblick …«
»Wir werden hier kaum irgend etwas Schönes entdecken«, sagte Pitt. Auch er spürte Übelkeit in sich aufsteigen. »Wenn ich diesen Aschenhaufen richtig deute, finden wir wenigstens noch vierzehn verbrannte Leichen.«
Hunnewell zog eine Grimasse, als er sich bückte und die Taschenlampe aufhob. Dann nahm er ein Notizbuch aus der Tasche, klemmte die Taschenlampe unter den Arm und überflog einige Seiten. »Ja, Sie haben recht. An Bord waren die sechsköpfige Mannschaft und neun Passagiere: fünfzehn Leute im ganzen.« Er blätterte ein bißchen und blieb anderswo hängen.
»Dieser arme Teufel muß der Funker gewesen sein. Svendborg, Gustav Svendborg.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Der einzige, der uns das sicher sagen könnte, wäre sein Zahnarzt.« Pitt starrte auf das, was einmal ein lebendiger Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war, und versuchte sich vorzustellen, wie sein Ende wohl gewesen sein mochte. Eine Wand aus roten und orangefarbenen Flammen, eine Glut wie von einem Hochofen, ein kurzer, schauerlicher Schrei, die rasenden Schmerzen, die sich von allen Seiten in ihn fraßen und ihn wahnsinnig machten, die Glieder, die im Todeskampf wild um sich schlugen. Zu verbrennen, überlegte er, die letzten Sekunden seines Lebens solche unbeschreiblichen Qualen zu erleiden, das war eine Todesart, vor der jeder lebende Mensch und jedes Tier panische Angst haben mußten.
Pitt kniete sich nieder und untersuchte den Körper genauer, die Augen zusammengekniffen und den Mund fest geschlossen. Es mußte sich so ähnlich abgespielt haben, wie er vermutete, mit einer Abweichung: Die verbrannte Gestalt war wie ein Embryo zusammengekrümmt, die Knie waren fast bis zum Kinn hochgezogen und die Arme fest an die Seiten gepreßt. Durch die starke Hitze war das Fleisch geschrumpft. Aber es war etwas anderes, das Pitts Aufmerksamkeit erregte. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf das Deck neben dem Körper. Unmittelbar neben der Leiche ragten die verbogenen Stahlbeine des Funkersessels in die Höhe.
»Was finden Sie an dieser gräßlichen Sache so interessant?« fragte Hunnewell heiser.
»Schauen Sie einmal«, erklärte Pitt. »Es sieht so aus, als ob der arme Gustav hier gesessen ist, während er starb. Sein Stuhl muß im wahrsten Sinne des Wortes unter ihm ausgebrannt sein.«
Hunnewell sagte nichts, sondern sah Pitt nur fragend an.
»Finden Sie es nicht seltsam«, fuhr Pitt fort, »daß ein Mensch völlig ruhig sitzen bleibt, während er stirbt, und keinen Versuch unternimmt, aufzustehen oder zu fliehen?«
»Ich finde es nicht seltsam«, erwiderte Hunnewell steinern. »Das Feuer verschlang ihn wahrscheinlich, als er gerade über sein Sendegerät gebeugt saß und SOS funkte.« Von neuem mußte Hunnewell mit Übelkeit kämpfen. »Mein Gott, unsere Vermutungen helfen ihm auch nicht mehr. Verziehen wir uns und durchsuchen wir das restliche Schiff, solange ich mich noch aufrecht halten kann.«
Pitt nickte, und sie gingen auf den Korridor zurück. Gemeinsam untersuchten sie das Innere des Wracks. Im Maschinenraum, in der Kombüse, im Salon, überall stießen sie auf dasselbe grauenhafte Bild des Todes. Als sie den dreizehnten und den vierzehnten Leichnam im Ruderhaus entdeckten, hatte sich Hunnewell langsam an den Anblick gewöhnt. Er zog sein Notizbuch noch ein paarmal zu Rate und kennzeichnete bestimmte
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