Eisblume
entfernt. Aber auch in dem Wohngebiet hätte sich der Täter sonst wo verstecken können. Nach wie vielen Tätern suchten sie? Einer? Zwei? Er ging die Gesprächsprotokolle der Anwohnerbefragungen, die bereits in der Nacht gemacht worden waren, noch einmal durch. Nein, nichts davon half ihm weiter.
Sein Telefon klingelte, und Paul Heimle von der Eingangszentrale kündigte Jasmin Risch an. Peppi ging hinunter, um sie abzuholen.
Die einzige Farbe in Jasmin Rischs Gesicht waren die dunkelroten Ränder unter den Augen. Der Rest war so blass, als gäbe es kein Blut mehr in ihrem Körper. Die blondierten Stoppelhaare unterstrichen diesen Eindruck noch. Kraftlos saß sie vor Branders Schreibtisch auf dem Besucherstuhl und starrte ihn mit leeren Augen an.
Brander spürte das gewohnte Unbehagen, als er mit der Befragung begann.
»Frau Risch, geht es Ihnen etwas besser?«, versuchte er, das Gespräch in Gang zu bringen.
Sie zuckte stumm mit den Schultern. Es ging ihr nicht besser, aber sie war etwas ruhiger.
»Ich muss Ihnen leider ein paar Fragen stellen …«
Ein kaum merkliches Nicken deutete ihm an, dass er fortfahren sollte.
»Frau Risch, wissen Sie, wo Herr Vockerodt gestern Nacht war?«
»Nein.« Ihre Stimme klang so leer und verloren, als gehöre sie zu keinem Körper, der ihr Ausdruck verleihen konnte.
»Er wurde in der Eugenstraße gefunden. Hatte er vielleicht Freunde, die er dort in der Gegend besucht hat?«
»Nein. Vielleicht. Nein. Ich glaube nicht. Er wollte doch nur spazieren gehen.« Sie sprach so leise, das Brander Mühe hatte, sie zu verstehen. Tränen liefen über ihr Gesicht.
»Mitten in der Nacht?« Brander rief sich den Tübinger Stadtplan ins Gedächtnis. Für einen nächtlichen Spaziergang war er ziemlich weit gelaufen.
Jasmin Risch zuckte wieder mit den Schultern.
»Wann haben Sie Ihren Freund zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern Abend. Navo hatte für uns gekocht. Ein afrikanisches Gericht. Es hat gut geschmeckt, aber er war nicht zufrieden. Es wären nicht die richtigen Zutaten gewesen, und die Gewürze würden hier nicht so schmecken wie in seiner Heimat. Er war traurig. Nachdem wir gegessen hatten, sagte er, er müsse ein bisschen allein sein. Er wollte spazieren gehen. Ich fragte ihn, ob wir gemeinsam spazieren gehen sollen, aber das wollte er nicht. Ich wusste, dass ich ihn gehen lassen musste. Manchmal braucht er einfach Zeit für sich …« Sie brach ab, begann wieder stärker zu weinen.
»Um wie viel Uhr ist er gegangen?«, fragte Brander, nachdem er ihr Zeit gegeben hatte, sich wieder zu beruhigen.
»Ich weiß es nicht genau. Um zehn vielleicht. Es war nicht ungewöhnlich. Er ging oft nachts spazieren. Ich glaube, er hatte fürchterliches Heimweh«, erklärte sie. »Es verunsicherte ihn, dass er die Straßen nicht kannte. In seiner Heimat, da wusste er, wo er hingehen musste, was sich hinter der nächsten Kreuzung verbarg. Hier war er fremd. Die Menschen waren ihm fremd, die Stadt, unsere Kultur, alles war ihm fremd. Er hat mir einmal erklärt, er müsse die Stadt in Ruhe, in der Stille kennenlernen, um ihren Puls zu spüren. Tagsüber mit all dem Verkehr, den vielen Menschen und ihrer Hektik, da würde er nichts fühlen. Nur ein ständiges Getriebensein. Navo war ein sensibler, feinfühliger Mensch, und er war so traurig gestern. Ich hätte ihn nicht allein gehen lassen dürfen.« Sie putzte sich die Nase, wischte die Tränen aus ihrem Gesicht, straffte ein wenig die Schultern und sah Brander an. »Wie … wie hat er es getan?«
»Er …« Brander stutzte. Er? Ging sie davon aus, dass es ein Mann gewesen war? Ein einzelner Täter? Hatte sie vielleicht eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte? »Wie hat wer was getan?«, fragte er.
»Navo! Wie hat er es getan? Ist er vor einen Zug gesprungen?« Sie wurde lauter, wütend, brauchte die Wut, um nicht gleich wieder bei diesen Worten zusammenzubrechen. »Von einer Brücke?«
In der Eugenstraße gab es weder Bahngleise noch Brücken. Es war ein verkehrsberuhigter Bereich. Ein Wohngebiet nahe der B 28.
»Frau Risch, Ihr Freund hat sich nicht umgebracht«, antwortete Brander so behutsam wie möglich. Die Frau hatte ihren ersten Schock noch nicht überwunden, nun musste er ihr einen zweiten versetzen. »Er … wir wissen es nicht genau, vielleicht war es ein Unfall. Vielleicht gab es einen Streit …«
Jasmin Risch schüttelte ungläubig den Kopf. Starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Streit?« Sie brauchte einen
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