Eisblume
Vielfalt statt Einfalt. Zehntausend Gegendemonstranten gegen zweihundertdreißig Hohlköpfe. Da haben wirklich mal alle an einem Strang gezogen.«
Es gab keinen im Raum, der sich nicht an diesen Tag erinnerte.
»Karl-Heinz, kannst du mit dem Kollegen vom Staatsschutz sprechen? Vielleicht gibt es Personen, die wir überprüfen sollten«, bat Brander den Kollegen.
Barowsky nickte.
»Danke.« Brander machte sich eine Notiz. »Freddy, wie sind die Chancen auf Fingerabdrücke oder DNA -Spuren?«
»Vergiss es. Der Schlag ins Gesicht wurde mit der Faust ausgeführt, das heißt keine Fingerabdrücke, maximal gäbe es Abriebspuren der Fingerknöchel. Da haben die Rechtsmediziner aber auch nichts entdecken können. Der Täter hat sehr wahrscheinlich Handschuhe getragen. Wir versuchen, an der Kleidung des Opfers noch was zu finden, aber mach dir keine Hoffnung. Die Spuren dürften gegen null tendieren.«
»Umgebungsspuren? Du weißt schon, verlorene Zigarettenkippe, gebrauchtes Tempo …«
Tropper schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, alles zu sichten, aber es sieht ganz, ganz schlecht aus.«
Brander spürte jeden einzelnen Knochen im Leib, als er abends sein Haus in Entringen betrat. Licht drang aus dem Wohnzimmer, und er hörte die Dialoge eines Fernsehfilms. Er zog seine Schuhe aus, hängte Jacke und Mütze an die Garderobe und ging zu seiner Frau, die auf dem Sofa lag. Er setzte sich neben sie, strich mit der Hand zärtlich über ihre Wange und küsste sie auf den Mund.
»Du siehst müde aus«, stellte Cecilia fest.
»Bin ich auch.«
Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. »Ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Babs wird noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Der Kreislauf ist sehr schwach und ihre Psyche ist völlig instabil. Die Ärzte haben zu einer stationären Behandlung in einer psychiatrischen Klinik geraten. Allerdings muss Babs einwilligen, was sie im Moment wohl noch nicht tut.«
Brander hörte ihr schweigend zu.
»Ich glaube, Julian geht es sehr schlecht. Deine Eltern sagen, er würde kaum ein Wort von sich geben. Sie werden eine Weile oben bleiben, um zu helfen.«
»Es muss schrecklich für ihn gewesen sein, seine Mutter so zu finden.«
»Aber er hat gut reagiert. Anscheinend hat er sofort die Situation erkannt und den Notarzt gerufen.«
Brander strich sich über das Kinn, spürte die Bartstoppeln seines Zwei-Tage-Barts. »Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für den Jungen tun.«
»Ruf ihn an.«
»Meinst du?«
Cecilia nickte ihm aufmunternd zu, und er griff zum Telefon. Er wählte den Festnetzanschluss seines Bruders, sprach kurz mit seiner Mutter, die ihm sagte, dass Daniel in der Klinik übernachten würde, und ließ sich dann Julian ans Telefon geben.
»Ja?«, hörte er kurz darauf die trotzige Stimme seines Neffen. Julian hatte den Stimmbruch hinter sich und die dunkle, kräftige Stimmlage seines Vaters geerbt. Bei jedem Anruf war Brander im Zweifel, wen er tatsächlich am anderen Ende der Leitung hörte. Doch diesen trotzigen Ton kannte er nur von Julian.
»Hey, Julian, ich bin’s, Andi.« Es hörte sich verkrampft an, unsicher, falsch. Mit seinen Eltern konnte er reden, aber was sollte er Julian sagen?
»Hm.« Nur ein kurzer Laut, der ihm zeigte, dass er am anderen Ende gehört wurde.
»Julian, ich wollt dir sagen, dass …«
»Dass es dir leidtut? Dass ich mich jederzeit bei dir melden kann? Ihr könnt mich alle mal.« Julian hatte aufgelegt, bevor Brander auch nur einen weiteren Ton von sich geben konnte.
»Oha«, stöhnte Brander leise. Er starrte auf das Telefon in seiner Hand, spürte eine fürchterliche Leere in seinem Kopf. Er hatte falsch angefangen, hatte nicht die richtigen Worte gefunden, nicht den richtigen Ton.
Cecilia legte ihm eine Hand auf den Rücken. »Was hat er gesagt?«
»Dass wir ihn alle mal können. Am Arsch lecken, meint er vermutlich.« Er verstand, dass der Junge durcheinander war, dennoch trafen ihn die Worte hart.
»Es ist gut, wenn er seine Wut rauslässt«, sagte Cecilia nachdenklich.
»Meinst du, ich sollte ihn gleich noch einmal anrufen?«, brachte Brander einen Funken Galgenhumor auf. Er griff nach Cecilias Hand, streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken, spürte ihre warme, weiche Haut. »Was ist da oben los? Ich versteh das nicht. Babs war doch immer so ein fröhlicher Mensch.«
»Jeder Mensch kann in eine schwere Krise geraten.«
»Wir sprechen hier von einem Selbstmordversuch.
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