Eisblume
Treppenhaus. Die Wand zu ihrer Linken war mit obszönen Graffiti beschmiert worden. An der Decke hing eine nackte Neonröhre. Ein muffig-feuchter Geruch stieg Brander in die Nase, vermischte sich mit den Düften fremdländischer Mittagsgerichte.
Radekes Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Brander klingelte an der Tür der Nachbarwohnung. Aus der oberen Etage drang laute Musik. Sie meinten Schritte auf der anderen Seite der Tür zu hören, aber die Tür blieb verschlossen. Brander klingelte erneut.
»Hallo? Jemand zu Hause?«
»Da will wohl jemand nicht mit uns sprechen«, stellte Hendrik fest.
Sie versuchten es an den anderen Türen. In der oberen Etage öffnete ihnen eine übergewichtige Frau in zu engen rosa Leggins und einem zwei Nummern zu kleinen Sweatshirt. Brander schätzte sie auf Mitte dreißig. Sie konnte aber auch wesentlich jünger sein. Ein stark geschminktes Gesicht sah sie Kaugummi kauend an. Hätte sie blonde Locken gehabt, wäre sie als kleine Schwester von Cindy aus Marzahn durchgegangen.
»Frau Sailer?«
»Wer will das wissen?« Sie musterte die beiden Kommissare.
Brander hob die Hand, in der er seinen Dienstausweis hielt. »Brander, Kripo Tübingen.«
»Welche Ehre. Und der da?«
»Mein Kollege, Herr Marquardt.«
Sie stellte die Kaubewegungen einen Moment lang ein, musterte Hendrik und glitt mit der Zunge über ihre Lippen. »Heut Abend schon was vor?«
»Glücklicher Familienvater«, entgegnete Hendrik.
»Waren Sie letzte Woche Dienstagabend zu Hause?«, fragte Brander.
»Nee, da war ich bei jemanden, der noch nichts vorhatte.« Sie grinste Hendrik lüstern an.
»Ich meinte nicht gestern Abend, sondern letzte Woche Dienstagabend«, präzisierte Brander noch einmal.
Frau Sailer sah ihn an. »Ich hab Ihre Frage schon verstanden. Ich war weder Dienstagabend letzte Woche noch gestern Abend zu Hause. Bin abends viel unterwegs.«
In einer anderen Wohnung trafen sie einen Frührentner an, der abends früh schlafen ging und sein Hörgerät dazu ablegte. Er hatte in der fraglichen Nacht weder etwas gehört noch gesehen.
Keiner der Hausbewohner, die sie antrafen, hatte etwas gehört oder gesehen. Entweder hatten sie schon geschlafen, ferngesehen oder sie waren nicht zu Hause gewesen. Zwei Mieter waren nicht anzutreffen.
»War einen Versuch wert«, befand Brander, während sie die Treppen wieder hinunterstiegen.
Als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten, betrat ein Mädchen das Haus. Dunkle Locken umrahmten ein südländisches Gesicht. Sie trug eine Einkaufstasche und stieg die Stufen hinauf, nicht ohne die beiden Männer misstrauisch zu beobachten. Sie war vielleicht neun oder zehn Jahre alt. An der Wohnungstür, an der Brander zuvor erfolglos geklingelt hatte, blieb sie stehen und steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Kann ich dich kurz etwas fragen?«, sprach Brander das Mädchen an.
Sie öffnete die Tür und sah ihn noch immer misstrauisch an. »Was denn?«
»Du musst keine Angst haben. Wir sind von der Kriminalpolizei.« Brander zeigte dem Mädchen seinen Ausweis. »Wir würden gern mit deinen Eltern sprechen. Sind die zu Hause?«
Im selben Augenblick dröhnte eine männliche Stimme zu ihnen durch. » Chi è ? Giulia?«
»Si, si. Sono io«, rief das Mädchen in die Wohnung. »È la polizia che vuole parlare con te.« Sie drehte sich wieder zu den Kommissaren. »Mein Vater spricht nicht gut deutsch. Ich kann übersetzen.«
»Das wäre sehr nett«, erklärte Brander erfreut. Seine Kenntnisse der italienischen Sprache beschränkten sich auf einen Wortschatz von maximal dreißig Wörtern, Pizza, Vino Rosso und Espresso eingeschlossen.
Ein untersetzter Mann in Achselhemd und Jogginghose trat hinter das Mädchen. Sie erklärte ihm noch einmal, dass Brander und sein Kollege von der Polizei waren. Der Mann sah sie fragend an.
»Signore Angelosanto?«, fragte Brander und hoffte, dass er den Namen auf dem Türschild richtig ausgesprochen hatte.
»Si.«
»Ich wüsste gern, ob Sie letzte Woche am Dienstagabend zu Hause waren?«
Angelosanto hörte sich die Übersetzung seiner Tochter an und antwortete mit einem misstrauischen »Si«.
»Haben Sie zufällig mitgekriegt, dass ein Mädchen hier gewesen ist? Sie wollte zu Ihrem Nachbarn, Herrn Radeke. So groß …« Brander deutete mit der Hand Nathalies Größe an. »Sie hatte glatte lange schwarze Haare.«
Wieder übersetzte Giulia ihrem Vater, aber schon nach den ersten Worten begann er den Kopf zu schütteln und fiel seiner
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