Eisblut
Sonntag Abend schon viermal auf den Anrufbeantworter gesprochen, doch sie
weigerte sich standhaft, zurückzurufen. Dabei gab es keinen Grund mehr, sich
auf die Rolle der enttäuschten, vorwurfsvollen Tochter zurückzuziehen. Seit
etwa einem Jahr war alles besser. Ihr Vater schlug ihre Mutter nicht mehr, und
seitdem durchlebten die beiden so etwas wie einen ungeahnten zweiten Frühling.
Doch obwohl Anna sich darüber hätte freuen müssen, obwohl sie die Entwicklung
durch mehr Zuwendung hätte unterstützen können, tat sie es nicht, zumindest
nicht uneingeschränkt. Sie verachtete ihre Mutter weiterhin, weil sie die
demütigenden Prügel jahrelang zugelassen hatte. Sie hasste ihren Vater
weiterhin, weil er ihre groÃe Liebe zu ihm in etwas Unerträgliches verwandelt
hatte. Laut der Supervision ihres Doktorvaters war sie schlichtweg wütend auf
ihre Eltern, weil die einfach so, ohne sie um Erlaubnis zu bitten, die
Parameter geändert hatten, und sie selbst sich dadurch genötigt fühlte, ihr
absurdes, aber immerhin seit Jahren eingeübtes Wertesystem nachzubessern. Was
eine unbequeme Anstrengung war. Und da sie das alles wusste und verstand, war
sie wütend auf sich selbst, weil sie trotzdem aus der Nummer nicht rauskam.
Aber für sie gab es noch Hoffnung. Für Uta Berger nicht.
Anna drehte und lief den Weg zurück. Nachher würde sie ihre Mutter
anrufen und einen Besuch zum Mittagessen verabreden. Sie beschleunigte ihren
Schritt. Als sie am anderen Ende ihrer Strecke ankam, fiel ihr Blick auf die
trotz leichtem Regen wie immer dort auf einer Parkbank versammelten
Obdachlosen. Die Bank war immer gut besucht, selbst um diese Uhrzeit,
vermutlich, weil fünf Meter weiter an der Hoheluftchaussee die Mülleimer vor
McDonaldâs stets mit Pommes frites und Hamburgerresten gefüllt waren und der
Kiosk daneben Kippen, Bier und Schnaps lieferte. Eine perfekte Infrastruktur.
Anna kam auf eine Idee, und sie zögerte nur kurz. Dann trabte sie zu der Bank.
Vier Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Verfallsstufen saÃen
da und tranken ihr Frühstücksbier.
»Moin, Jungs. Kann ich euch mal was fragen?«, begann sie.
»So âne süÃe Maus wie du immer«, meinte der Ãlteste, der hier
augenscheinlich das Sagen hatte und bei Annas Frage aufstand. Sein ganzer
Körper war ausgemergelt, sein Gesicht war übersät von den typischen offenen
Stellen, die durch Mangelernährung und übermäÃigen Genuss von minderwertigem
Alkohol herrührten. Zu Annas Ãberraschung jedoch roch er nicht schlecht, er
duftete sogar nach einem erträglichen Rasierwasser. Alle vier Männer stierten
ungeniert auf Annas von Regen und Schweià durchnässtes Sweatshirt, das an ihrer
Haut klebte und unter dem sich deutlich ihre Nippel abzeichneten.
»Ich suche einen Kollegen von euch. Georg Dassau, kennt ihr den?«
Die drei Jüngeren sahen den Ãlteren fragend an. Der kniff
misstrauisch die Augen zusammen. »Die Bullen waren auch schon hier und haben
gefragt. Bis du von den Bullen? So âne Undercover Miss Wet T-Shirt?«
Die Männer lachten. Anna lachte sarkastisch mit: »Mann, seid ihr
witzig, und das auf englisch.«
»Bist du nun ân Bulle?«
»Nee. Kennt ihr nun den Georg Dassau?«
»Nee.«
»Dann schönen Tag noch.« Anna war klar, dass sie logen. Dennoch
drehte sie ab, um zu verschwinden.
»Was willsten von dem Typen?«, bremste der Ãlteste sie aus. Anna wandte
sich wieder nach ihm um.
»Ich könnte dir jetzt âne Geschichte erzählen von wegen, er ist mein
Onkel, und es gibt was zu erben oder so. Aber ihr seid ja nicht blöd.«
»Eben. Also?«
Anna zögerte. Sie wusste nicht, was sie sagen durfte und was nicht.
Aber die Kerle kannten Georg Dassau, das war klar. Also sollte sie die Chance
nutzen.
»Die Bullen suchen ihn als Zeugen. Ist echt wichtig. Ein Mordfall.«
Einer der Jüngeren pfiff durch die wenigen Zähne, die er noch im
Mund hatte. »Die Frau im Sack am Offakamp. ScheiÃe, da hat Schorsch die ganze Zeit gepennt. Hätte er mir ruhig sagen können.«
»Schorsch nennt ihr ihn also«, wandte sich Anna an den Jüngeren, um
sofort Kontakt herzustellen.
»Kann man drauf kommen bei Georg.«
»Und wie heiÃt du, wenn ich fragen darf? Ich bin übrigens Anna.«
Der Jüngere hielt ihr die Hand hin: »Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher