Eisblut
wie Anna mit dem Kind an der Hand
über die Brücke Richtung Schiffe ging.
»Was macht sie denn da?«, fragte Karl misstrauisch. Christian
lächelte: »Keine Angst, die läuft nicht weg mit ihm. Kann ich runter zu Harmsen
und Lemke?«
»Auf gar keinen Fall«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Christian
und der Beamte drehten sich um.
»Hauptkommissar Ganske, welch zweifelhaftes Vergnügen.«
Martin Ganske ignorierte Christian und wandte sich an den Beamten:
»Was macht der Beyer hier? Sie wissen, dass er keinerlei Befugnisse hat!«
»Er ist Passant. Ich habe ihm eben erklärt, dass er nicht hinters
Absperrband darf«, antwortete Karl pflichtbewusst. Sein freches Grinsen jedoch
enttarnte die Lüge freiwillig.
»Ich sehe dir gerne bei der Arbeit zu, Ganske«, fügte Christian
ebenso frech grinsend hinzu, »oder ist das hier eher ein Job für die Soko von
Pete Altmann?«
»Du meinst deine überschätzte Ex-Truppe? Das entscheide ich nach
Betrachtung der Sachlage«, knurrte Ganske, trat hinter das Absperrband und
begab sich nach unten, wo der Plastiksack halb unter der Brücke hervorlugte.
Christian verschränkte die Arme und sah zu. Er konnte nichts tun,
und das ärgerte ihn. AuÃerdem traute er Ganske sogar zu, Beweismittel
verschwinden zu lassen, um die Soko scheitern zu sehen. Falls er Pete und seine
Leute überhaupt rechtzeitig informieren würde.
Anna stützte sich mit dem Jungen backbord auf die Reling.
Der Kleine konnte gerade seinen Kopf drüberstrecken. Gemeinsam blickte sie auf
die bleigraue Elbe, die von einem aufkommenden Oktobersturm wild bewegt in den
Hamburger Hafen gedrückt wurde. Möwen kreisten kreischend über den kreuzenden
Containerschiffen, die Wolken hingen schwer und dunkel über den Docks.
»Wie heiÃt du denn?«, fragte Anna.
»Thomas. Und du?«
»Anna. Anna Maybach. Wie das groÃe Auto. Kennst du das?«
Der Junge schüttelte heftig den Kopf: »Ich kenne nur Schiffe. Kennst
du die âºQueen Maryâ¹?«
»Klar. Kennst du die âºTitanicâ¹?«
»Klar.« Der Junge lachte, als hätte Anna einen guten Scherz gemacht.
Anna freute sich.
»Wie ist denn dein Nachname, Thomas?«
»Ganz doof. Müllermann.«
»Wieso? Müller wäre doch viel langweiliger«, sagte Anna. »Was machst
du denn hier so allein am Hafen? Hast du keine Schule?«
»Schule ist auch doof.« Thomas spuckte in die Elbe und sah der
winzigen weiÃen Schaumkrone auf ihrem Weg Richtung Nordsee hinterher.
»Wo ist denn deine Mama? Zu Hause?«
»Nee, die ist tot.«
Anna sah Thomas mitfühlend von der Seite an. Nun wirkte er noch
kleiner und einsamer als vorher.
»Das tut mir leid.«
Die beiden schwiegen eine Weile. Dann bekam Anna im Verlauf weiterer
Fragen und Antworten die Arbeitsstelle des Vaters heraus.
»Dann rufen wir ihn doch da mal an, dass er dich abholt«, meinte
Anna.
»Nein, nicht. Ich will Papa nicht stören, der hat doch eh schon so
viele Sorgen. Und ich mache ihm die allermeisten Sorgen. Deswegen will ich ja
auch wegfahren.« Thomas bemühte sich, sehr erwachsen und tapfer auszusehen,
aber Anna sah mit Schrecken in die wunde Kinderseele.
»Du willst weg?«
Thomas nickte: »Mit einem Schiff. Nach Spanien. Von da kommt meine
Mama. Aus Malaga. Wie das Eis mit Rosinen. Da will ich hin. Deswegen bin ich
hier. Aber von hier fahren gar keine Schiffe! Ich wollte nach vorne laufen zu
den Landungsbrücken, und dann habe ich den blauen Sack gesehen. Weil die Möwen
ihn aufgemacht und darin rumgepickt haben. Ich habe reingeguckt, und dann habe
ich ganz laut geschrien, und dann ist ein Mann gekommen und hat telefoniert und
mich festgehalten.«
Anna kniete nieder und nahm Thomas in die Arme. Ein heftiges
Schluchzen brach aus ihm heraus und überrollte seinen kleinen Körper wie eine
donnernde Lawine.
Volker und Eberhard kamen gehetzt an, und drei Minuten
nach den beiden traf auch Karen ein. Nur Pete fehlte noch, und bevor er hier
war und sich in seiner Funktion als sonderbefugter Chef mit Martin Ganske
anlegte, konnten sie gar nichts tun. Noch lag die neue Leiche in Ganskes
Zuständigkeitsbereich, und er weidete sich daran, die Soko Bund, die von
missgünstigen Mäulern vor einem Jahr schon Soko »Schund« getauft worden war,
zähneknirschend hinter dem Absperrband warten zu sehen. Dass der Fall
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