Eisblut
Yvonnes
Schüchternheit schnell verfliegen und ihrem natürlichen, unbekümmerten Wesen
weichen würde. Martin Abendroth erhob sich und bot Yvonne charmant den Platz
neben sich an: Er rückte ihr mit fast antiquierter Höflichkeit einen Stuhl
zurecht. Damit sie sich nicht noch mal stoÃe, erklärte er lächelnd.
Anna stellte sich vor und bat ihre Studenten ebenfalls um ein, zwei
Sätze zu ihren Namen, ihren Studienschwerpunkten und dem Grund ihres Interesses
für das anstehende Thema. Danach war die Stimmung einigermaÃen entspannt, auch
bei Anna. Als sie die Seminarunterlagen herumreichen lieÃ, bemerkte sie, wie
Martin Abendroth sie unverwandt anstarrte. Doch statt dass er den Blick ertappt
abwandte, lieà er ihn wohlgefällig über Annas Körper wandern und begann zu
grinsen. Anna ignorierte die Unverfrorenheit dieses Kerls. Er erinnerte sie ein
wenig an Pete, der hatte sie damals auch so selbstbewusst angegraben, um nicht
zu sagen aufgerissen. Dieser Martin sah ebenfalls unverschämt gut aus, Typ Jude
Law, mit dem zwischen Unschuld und Herausforderung oszillierenden Blick.
Anna hatte eine Literaturliste verteilt und gab ihrer Hoffnung
Ausdruck, dass die Studenten zumindest Freuds themengebende Arbeit über den
Fetischismus als Vorbereitung auf das Seminar schon gelesen hatten.
»Man begreift Freuds Thesen garantiert weitaus besser, wenn man sich
auch praktischen Ãbungen hingibt«, behauptete Martin. »Ich weià es natürlich
nicht, aber ich könnte es mir vorstellen. Sehen Sie das nicht auch so, Frau
Doktor Maybach? Werden Sie diesbezügliche Exkursionen anbieten? Oder halten Sie
es mehr mit der ⦠trockenen Theorie?«
Yvonne hielt die Luft an und blickte fassungslos von Martin zu Anna.
»Sie sind reichlich impertinent, junger Mann, gewöhnen Sie sich das
gar nicht erst an,« wies Anna ihn zurecht und ging dann endlich zu ihrer ersten
Unterrichtseinheit über.
Nachdem sich Christian bei Waller einen Vortrag über
korrekte Arbeitsweise und neue Chancen abgeholt hatte, fand er sich in der
Rechtsmedizin bei Karen ein. Pete war schon da, sah Karen und Mohsen entspannt
an die Wand gelehnt bei der Arbeit zu und lauschte aufmerksam dem Protokoll,
das Karen in ein über dem Metalltisch herabhängendes Mikro diktierte. Er
gehörte nicht zu den Typen, die bei der Obduktion einer Leiche schlappmachten.
Im Laufe seiner amerikanischen Ausbildung zum Psychologen und FBI-Profiler
hatte er einige Zeit mit dem Studium der Neurophysiologie in Palo Alto in
Kalifornien verbracht und dort selbst Leichen seziert. Ihn störten weder die
brachialen Geräusche, wie sie etwa beim gewaltsamen Aufbrechen des Brustkorbs
erzeugt wurden, noch die unvorstellbar widerlichen Gerüche, die eigentlich für
jeden Menschen schwer erträglich waren. Natürlich hatte sich auch Christian im
Laufe der Jahre ein dickes Fell zugelegt, aber sobald er hier eintrat, musste
er immer noch gegen aufkeimende Ãbelkeit ankämpfen und schaffte es auch nie,
den Körper auf dem Metalltisch als wissenschaftliches Forschungsobjekt zu
betrachten. Für ihn war das immer noch ein Mensch, in dessen Adern vor kurzem
noch Blut pulsiert hatte, ein Mensch voller Leidenschaften, Wut, Liebe, Hass,
Freude und Frust. Ein erfülltes oder gescheitertes Leben, auch und gerade im
Angesicht des Todes. Egal, wie sehr die reine Biologie hier im Vordergrund der
Betrachtungsweise stand.
»Wie weit ist sie?«, fragte er Pete leise und lehnte sich neben ihn
an die Wand. »Haltet die Klappe, oder geht raus«, beantwortete Karen die Frage,
ohne ihren Blick zu heben. Zum einen war sie hochkonzentriert auf ihre Arbeit,
zum anderen war sie genervt von Mohsen, der sie vor der Obduktion permanent mit
Fragen nach der Aussage seiner Mutter gelöchert hatte. Karen hatte ihm mehrfach
erklären müssen, dass Frau Hamidi um Vertraulichkeit gebeten hatte, und sie
sich wie alle anderen selbstverständlich so lange daran hielt, wie die
Ermittlungen es erlaubten.
Als Yvonne von ihrem Seminar in die Einsatzzentrale
zurückkam, herrschte dort ungewohnte Stille. Nur Daniels Geklapper auf der
Tastatur seines Computers war zu hören. Yvonne streckte den Kopf in sein Zimmer
und fragte ihn, ob er Lust auf einen Kaffee habe. Daniel bejahte und wunderte
sich über Yvonnes Anwesenheit. Sie hatte den Nachmittag frei, um sich ihrem
Studium zu widmen. Yvonne erklärte ihm lachend, dass sie
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