Eisblut
und öffnete es, nachdem Eberhard seine
Fotos gemacht hatte. Es waren schmutzige Klamotten, durchlöcherte Socken und
abgetragene Schuhe ohne Schnürsenkel. Und eine Geldbörse. Pete durchsuchte sie.
»Wie nett, dass der Mörder kein Interesse daran hat, uns die Identifizierung zu
erschweren.« Pete hielt einen Personalausweis in die Höhe: »Georg Dassau. Unser
Hauptverdächtiger.«
»Damit ist er wohl runter von der Liste«, meinte Christian.
Oben an der Absperrung moderierte Anna das Gespräch
zwischen Thomas und dem Streifenpolizisten. Anna machte dem Kleinen klar, wie
ungeheuer wichtig er wäre und wie dringend die Polizei ihn brauchte, denn sie
wusste, dass Thomas nichts so ersehnte, wie das Gefühl, gebraucht zu werden. So
war er denn auch ganz stolz, der »Kronzeuge« zu sein, und er war schon fast
fröhlich zu nennen, als sein Vater in hektischer Sorge ankam. Anna beobachtete,
wie der Vater auf seinen Sohn zukam und ihn fragte, was er denn hier mache und
wieso er nicht in der Schule wäre. Anna sah den Vorwurf im Gesicht von Herrn
Müllermann, und auch Thomas sah ihn. Sofort sackte er in sich zusammen, wurde
wieder ganz winzig und fühlte sich schuldig. Entschlossen ging Anna zu den
beiden und forderte mit wichtiger Miene den Jungen auf, zuerst seine
»Kronzeugenaussage« zu beenden. Sie stellte sich dem Vater vor, nahm ihn
beiseite und bat ihn um ein kurzes Gespräch.
Als Christian und Pete von dem Parkplatz nach oben kamen, entlieÃ
Anna den sichtlich erschütterten Vater aus ihrem Gespräch. Er ging mit Tränen
in den Augen zu seinem Sohn, nahm ihn fest in beide Arme und küsste ihn und
machte ihm â vielleicht zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau â klar, dass
Thomas das Liebste war, was es für ihn auf der ganzen Welt gab. Der Junge
weinte nur. Wahrscheinlich diesmal aber vor Erleichterung und Glück. Bewegt
beobachtete Anna die Szene und hoffte, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl lieÃe
sich für die beiden künftig in den Alltag hinüberretten.
»Was hast du denn mit denen gemacht?«, fragte Christian überrascht.
Anna hatte ihm vor einer halben Stunde noch gesteckt, dass der Kleine von zu
Hause weglaufen wollte.
»Nichts Besonderes. Ein, zwei Sätze aus dem therapeutischen
Erste-Hilfe-Koffer«, lächelte sie. Christian strich ihr die im Wind flatternden
Haarsträhnen aus dem Gesicht und hätte ihr am liebsten jetzt und auf der Stelle
gesagt, wie sehr er sie liebte, doch es war weder der Ort noch die Zeit.
»Ich werde hier noch länger brauchen. Danke, dass du mich gefahren
hast. Aber du solltest jetzt gehen«, meinte er stattdessen. Anna nickte. Sie
musste eh bald zur Uni.
Noch zwei lange Stunden hatte das Team um Christian am
Tatort zu tun, dann wurde die Leiche abtransportiert. Inzwischen regnete es aus
Kübeln, die Elbe klatschte sturmbewegt gegen den Beton und lieà die Schiffe im
Museumshafen auf und ab tanzen. Karen bestieg durchnässt und frierend ihr
Cabrio und fuhr zur Rechtsmedizin, um die Obduktion vorzunehmen. Eberhard,
Volker, Pete und Christian nahmen den Dienstwagen, den Eberhard vor der Brücke
geparkt hatte. Pete war mit dem Taxi gekommen.
Zu Christians groÃer Ãberraschung nahm Eberhard hinter dem Steuer
Platz. Sonst fuhr immer Volker. Nicht, weil er der bessere Autofahrer war, im
Gegenteil: So zurückhaltend, fast unterkühlt Volker normalerweise wirkte, so
temperamentvoll führte er sich hinter dem Steuer auf. Er fuhr wie ein ungeübter
Formel-Eins-Fan auf Koks, und die Kollegen lieÃen ihn nur hinters Steuer, weil
er sich sonst weigerte, mitzukommen. Heute jedoch stieg er ohne Murren auf den
Beifahrersitz.
»Hast du endlich eingesehen, dass du als Autofahrer eine Gefahr für
die Ãffentlichkeit bist?«, fragte Christian verwundert.
Ungerührt drehte Volker sich zu Pete um: »Wer ist eigentlich auf die
unersprieÃliche Idee gekommen, diesen Typen ins Team zurückzuholen?«
Eberhard lachte: »Volker hat sich gestern von einer Lesbe unter den
Tisch saufen lassen. Riecht ihr nichts? Der stinkt doch immer noch wie eine
Brauerei. Wenn er fahren will, lasse ich ihn pusten, und der Lappen ist weg.«
»War das die Lesbe aus der Theatergruppe?«, wollte Pete wissen.
Volker nickte.
»Okay«, meinte Pete, »du und Herd, ihr kümmert euch um den
Tatortbericht. Christian, du hast gleich einen Termin bei Waller.
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