Eisblut
er sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
»Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Für die blöden
Bemerkungen, die ich im Seminar gemacht habe. Keine Ahnung, wieso, aber ich
verspüre anscheinend den unwiderstehlichen Zwang, unangenehm aufzufallen.«
Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und tippte sich nachdenklich
mit ihrem Stift gegen die Unterlippe. »Entschuldigung angenommen. Bessern Sie
sich.«
»Dazu müsste ich vermutlich erst die Gründe für mein zwanghaftes
Verhalten herausfinden, meinen Sie nicht?«
»Tun Sie das.« Anna blieb reserviert und lieà ihn kommen, sie wollte
herausfinden, worum es diesem Typen ging.
Inzwischen war Martins Lässigkeit zurückgekehrt. »Hätten Sie nicht
âne Blitzanalyse für mich, so aus dem Stegreif?«
»Sie machen es schon wieder.«
Martin wirkte irritiert: »Was denn?«
»Mir auf den Wecker fallen. Scheint wirklich zwanghaft zu sein.«
Sofort war die zerknirschte Miene zurück. Er erhob sich eilig,
entschuldigte sich erneut und verabschiedete sich. Bevor er die Tür hinter sich
schloss, wandte er sich noch einmal um.
»Diese Kleine aus dem ersten Semester, die haben Sie zugelassen,
weil Sie sie privat kennen, oder?«
»Was geht Sie das an? Oder hätte Herr ⦠wie hieà er noch, dem Sie den
Platz abgeschwatzt haben? Will der ihn gern zurück, und Sie setzen jetzt an,
Yvonne rauszudrängen?«
»Nein, das käme mir nicht in den Sinn. Ich wollte lediglich
wissen ⦠aber sorry, Sie haben recht, das geht mich wirklich nichts an. Ich finde
die Kleine nur ⦠echt sympathisch.«
»Um Himmels willen. Sie wollen doch bestimmt keine Baggertipps von
mir, oder?«
Martin lächelte: »Nein. Nochmals sorry, und weg bin ich.« Und
tatsächlich machte er endlich die Tür hinter sich zu. Anna war noch
unentschlossen, ob sie ihn nervig oder niedlich finden sollte.
Es war schon nach sechs Uhr, als auch Pete und Daniel bei
Christian eintrafen. Fast gleichzeitig wurden die von Christian bestellten
Pizzen und Biere geliefert. Volker und Eberhard hatten es sich schon auf dem
Sofa gemütlich gemacht, weigerten sich aber beide, mit Bier anzustoÃen.
Eberhard war im Marathon-Training und gestattete sich Alkohol nur einmal pro
Woche. Diesen Freibrief schon dienstags zu verballern, erschien ihm kein gutes
Omen für das kommende Wochenende. Volker hingegen konnte nach eigenem
Bekenntnis für sehr lange Zeit kein Bier mehr sehen noch riechen noch
schmecken, das Besäufnis mit Kiki am Vorabend steckte ihm noch in der Leber.
Daniel suchte in Christians Küche nach einer Flasche Rotwein und wurde zu
seiner groÃen Freude fündig. Als Karen endlich auch da war, wurde auf Christian
angestoÃen. Nach ein paar derben SpäÃen über Wallers Manipulierbarkeit und
Ganskes dummes Gesicht rief Pete die Truppe zur Ordnung.
»Heute Morgen ist die Konferenz ausgefallen. Lasst uns also bitte
jetzt mal zusammentragen, wo wir stehen. Ich habe nämlich das Gefühl, wir
bewegen uns seitwärts statt vorwärts und kriegen keinerlei sinnvolle Ordnung in
die bisher vorliegenden Fakten.«
Sofort wich die ausgelassene Feierstimmung einer ruhigen
Konzentriertheit. Daniel packte sein Laptop aus und fuhr es hoch. Eberhard und
Volker legten einige Berichte und Zeugenaussagen auf den Tisch, die von
Kollegen im Polizeipräsidium zusammengetragen worden waren. Aus einem groÃen
Umschlag packte Pete die an den Fundorten gemachten Fotos dazu.
»Karen, fängst du bitte an? Damit wir alle auf dem gleichen Stand
sind.«
Sie nickte und verteilte nun ihrerseits einige Fotos auf dem Tisch,
mit denen sie die anderen erst mal überlagerte. Daniel stand auf und räumte die
auf den Boden verfrachteten Pizzateller mit den Essensresten in die Küche. Er
wollte die Obduktionsfotos nicht sehen, und schon gar nicht neben abgegessenen
Tellern. Das war nicht seine Welt, das war ihm alles viel zu real.
Karen ersparte ihren Kollegen wie immer groÃes Fachchinesisch und
fasste ihre Erkenntnisse allgemeinverständlich zusammen: »Bei der heute Morgen
aufgefundenen Leiche handelt es sich um einen Mann, zweiundsechzig Jahre alt.
Laut beiliegendem Personalausweis Georg Dassau, der in den Akten als
wohnungslos geführt wird. Aufgrund von Röntgenaufnahmen aus Dassaus altem
Krankenhaus in Heidelberg, wo er in einem früheren Leben nicht nur als
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