Eisblut
zu verbohrt
war, die Wahrheit zu erkennen, ob er sich schlicht weigerte, den Tatsachen ins
Auge zu sehen, ob er sein Denken in eigene Mauern zwängte, um das für ihn
Unvorstellbare nicht einsehen zu müssen: Dass Uta ihrem Mörder vielleicht
freiwillig gefolgt war, dass sie seine Spielchen sogar genossen hatte, bis er
alle Grenzen sprengte und ihr richtig wehtat. Lars beschloss, das herauszufinden.
Den Rückweg absolvierten Karen und Christian schweigend.
Frau Hamidi war mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus eingeliefert
worden, und gegen jegliche Vernunft fühlten sie sich schuldig. Langsam und
auffallend umsichtig, als könne sie damit irgendetwas wettmachen, lenkte Karen
den Wagen durch den sich stauenden Feierabendverkehr. Sie hatte Mohsen auf die
Mailbox gesprochen und hegte die letzte Hoffnung, dass die Nachricht vom
Zusammenbruch seiner Mutter ihn zur Rückkehr bewegen würde. Nun fuhr sie
Christian zum Büro zurück und wollte sich dann mit der Doktorandin treffen, um
eine Nachtschicht einzulegen und die Obduktionsberichte zu prüfen. Selbst als
Christian ausstieg, gab es noch keine Worte. Er nickte ihr stumm zu, sie legte
den ersten Gang ein, wendete und fuhr weiter. Schwer schleppte sich Christian
die Treppe hoch zur Einsatzzentrale, wo Daniel wie immer autistisch in seinen
Computer hackte. Keiner von ihnen wusste je, was Daniel da eigentlich den
ganzen Tag auf diesen Datenautobahnen trieb, aber wenn man ihm eine Frage
stellte, und war sie noch so abseitig, bekam man immer eine Antwort.
Pete stand vor der Pinnwand und betrachtete die dort aufgehängten
Fundortfotos. Als Christian ihm von Mohsens blindwütigem Aktionismus erzählt hatte,
war er ebenso betroffen. Doch er hatte auch Verständnis dafür. Vermutlich
konnte Mohsen, geprägt durch seinen kulturellen Kontext, nicht anders handeln.
Christian nickte: »Das hat Frau Hamidi auch gesagt. Sie hat gesagt, er ist mein
Sohn. Er muss das tun.«
Pete holte zwei Tassen Kaffee aus der Küche und berichtete von
Eberhards und Volkers frustrierten Anrufen. Sie klapperten seit heute Morgen
mit einigen Helfern von der Sitte die Sexshops in Bahnhofsnähe und auf dem Kiez
ab. Keiner reagierte auf das Foto von Uta Berger, keiner wollte sie je gesehen
haben, auch in einem Laden namens »Marquis« nicht, aus dem laut eingenähtem
Schildchen ein nietenbesetzter Ledertanga stammte, der in Utas Schublade
gefunden worden war. Entweder logen die Verkäufer, weil sie trotz der per
Zeitung versprochenen Belohnung nichts mit dem Fall zu tun haben wollten, der
selbst in dieser eher hartgesottenen Branche Angst und Schrecken auslöste, oder
Uta hatte die Sachen gar nicht selbst eingekauft, sondern von ihrem Typen bekommen.
Christian war müde. Er rief Anna an, denn er hatte das Gefühl, sie
über Mohsen und seine Mutter informieren zu müssen, auch wenn er sich einen
angenehmeren Grund gewünscht hätte, sich bei ihr zu melden. Anna war geschockt.
Sie fühlte sich genauso grundlos schuldig wie Karen und Christian und wollte
sofort im Krankenhaus vorbeifahren, um zu sehen, wie es Frau Hamidi ging.
»Ich würde ja mitkommen, aber ich glaube, Frau Hamidi hat für heute
genug von mir«, meinte Christian vorsichtig.
»Willst du damit versteckt andeuten, dass du mich gerne noch sehen
würdest?«
»Hm«, brummte Christian. Man konnte es mit viel gutem Willen als
Zustimmung auslegen.
Auf der anderen Seite der Leitung war Schweigen. Zwei Sekunden, zehn
Sekunden, Christian fühlte sich wie auf einer Streckbank der Zeit.
»Ich will früh ins Bett«, kam endlich eine Antwort, »immer noch
Jetlag, weiÃt du.«
»Ja, klar, schlaf dich mal richtig aus.« Christian legte auf. Was
für ein beschissener Tag! Es gab im Büro für ihn im Moment nichts Sinnvolles zu
tun. Er wollte aber auch noch nicht nach Hause, wo er wieder den ganzen Abend
über all die Fehler nachgrübeln würde, die er in seiner Beziehung zu Anna
gemacht hatte und darüber, ob sie ihm noch eine Chance geben würde. Oder ob er
diese sich endlos im Kreis drehenden Gedanken an Anna lieber ganz aufgeben und
sich in ein Ablenkungsabenteuer mit einer jungen Blondine stürzen sollte. Er
beschloss, in seine Stammkneipe in der Weidenallee zu gehen und seinem
Lieblingstheker Michel ein bisschen auf die Nerven zu fallen.
Tag 6: Donnerstag, 2. November
Mit dem Tod beginnt ein unaufhaltsamer
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