Eisblut
Küche frisch duftender
Kaffee aufgebrüht war. Offensichtlich war Yvonne da. Christian nahm sich eine
Tasse und schlenderte in ihr kleines Büro. Es war leer, genau wie die anderen
Räume. Nur aus Daniels Kabuff am Ende des Flurs hörte er Stimmen.
»Moin. Wo sind denn alle?«, fragte Christian. Yvonne saà bei Daniel
am Schreibtisch und trank Kaffee mit ihm.
»Herd ist im Präsidium bei der Sitte und geht mit Pete die Liste der
Stammkunden von S/M-Läden durch. Wird wohl den ganzen Tag dauern,
meinten sie«, antwortete Yvonne.
»Das kann Herd doch allein machen!«
Yvonne schüttelte den Kopf: »Pete überprüft, wer auf das von ihm
erstellte vorläufige Profil unseres Mörders passt und wer nicht. Tja, und
Volker ist beim Arzt. Er hat sich zwei Rippen angeknackst.«
»Bei seinen Niederwerfungen«, fügte Daniel grinsend hinzu.
»Bitte was?« Christian verstand nur Bahnhof.
Yvonne klärte ihn auf: »Buddhistische Demutsübungen. Man wirft sich
hundertmal oder so auf den Boden. Das macht Volker jeden Morgen. Heute ist er
es wohl ein wenig zu heftig angegangen. Jedenfalls kann er kaum Luft holen und
wird jetzt verarztet.«
Es kam selten vor, dass Christian an der Zusammensetzung seines
Teams zweifelte, aber nun beschlich ihn doch ein leises Gefühl, von Irren
umgeben zu sein. Volker war definitiv der Seltsamste der Truppe. In seinem
Charakter zeigten sich so viele Widersprüchlichkeiten, dass man unwillkürlich
rätselte, wie viele Seelen wohl in seiner Brust wohnten. Seine an Apathie
grenzende Ruhe allen menschlichen Irrungen und Wirrungen gegenüber und das
Hager-Asketische seiner Gestalt lieÃen vermuten, Volker sei gleichgültig oder
bestenfalls tolerant und nachgiebig. Dieser Eindruck wurde jedoch Lügen
gestraft durch absolut klare und beinharte Ansagen, mit denen er von seiner
nächsten Umgebung ein ihm genehmes Verhalten einforderte. Es gab schlichtweg
Dinge, die Volker nicht stillschweigend akzeptierte. Jede Form von
Lärmbelästigung, Unhöflichkeit und Dummheit standen ganz oben auf der Liste und
konnten ihn fuchsteufelswild machen. Dazu kam seine überraschende Aggression
beim Autofahren. Und dennoch wirkte Volker selbst in solchen Momenten wie ein
in sich geschlossenes, vollkommen ausbalanciertes System, das zwar ständig
zwischen Extremen hin- und herpendelte, dieses Pendeln aber so als natürliche
Bewegung integrierte, dass nie die Mitte verloren ging.
»Wenn ihr wollt, gehe ich gleich noch Brötchen holen, dann muss ich
zur Uni«, fuhr Yvonne fort, ohne Volkers buddhistischen Unfall einer weiteren
Betrachtung zu unterziehen. »Ich habe eine Vorlesung. Und dann noch ein Date.«
Der Seitenblick, den sie Daniel zuwarf, war überflüssig, denn der zeigte nicht
die geringste Reaktion, nicht mal Aufmerksamkeit. Dass immerhin Christian
nachfragte, war ihr kein Trost, und sie wich seinem väterlichen Interesse aus.
»Ach ja, da hat ein Fred Thelen angerufen. Der ist in Hamburg und
will dich heute Morgen besuchen.« Yvonne sah auf ihre Uhr. »Er wird wohl bald
eintreffen. Oder hätte ich ihn abwimmeln sollen?«
»Fred?«, fragte Christian überrascht nach. »Fred Thelen?«
Daniel hob den Kopf: »Kommt mir bekannt vor. Wer ist das?«
»Den kennst du recht gut«, meinte Christian grinsend. »Der war
damals beim BKA, als sie dich wegen Einbruchs per Computer in gesicherte
Regierungsdaten verhaften wollten.«
»Sie konnten mir nichts beweisen«, erwiderte Daniel brummig, »also
war ichâs auch nicht.«
Christian erinnerte sich deutlich an seine erste Begegnung mit
Daniel. Er hatte vor etwa zwei Jahren seinen Kumpel Fred beim BKA
besucht, um bei ihm für einen kniffligen Fall einen Computerspezialisten
auszuleihen. Das BKA hatte an dem Tag einen gewissen Daniel Meier-Grüne
vorgeladen, einen damals knapp dreiÃigjährigen, abgebrochenen Grafik-Studenten,
der sich seinen Lebensunterhalt in einer Setzerei für Doktorarbeiten verdiente.
Sie vermuteten in ihm einen seit geraumer Zeit gejagten, unglaublich
talentierten Hacker, der den Humor der Politiker deutlich überstrapazierte,
indem er fingierte Regierungserklärungen fragwürdigen Inhalts herausgab und
auch sonst allerlei Schabernack in brisanten Netzwerken trieb. Christian hatte
mit Thelens Erlaubnis Daniel damals einen Deal angeboten: Das BKA lässt
ihn in Ruhe, und Daniel stellt im
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