Eisblut
sie
eine gute Portion des nötigen Pathologenhumors, der auf AuÃenstehende immer
gefühllos wirkte. Trotz der vielen Arbeit hatten die beiden sogar Spaà gehabt.
Nicole schien die Zusammenarbeit ähnlich positiv wie Karen zu bewerten. Sie
lehnte sich müde lächelnd zurück und machte Karen ein Angebot: »Wenn Sie mögen,
assistiere ich Ihnen ab morgen bei den Obduktionen, solange Herr Hamidi in
Urlaub ist. Falls Sie mit meinem Doktorvater über den Abgabetermin für meine
Arbeit reden.«
Karen stimmte sofort zu. Sie hatte nicht im Traum zu hoffen gewagt,
so schnell und unkompliziert kompetenten Ersatz für Mohsen zu finden. Weder
Nicole noch die anderen Kollegen in der Rechtsmedizin waren über die Umstände
von Mohsens Abwesenheit aufgeklärt. Sie hatte seine schriftliche Kündigung an
sich genommen, sie sicher in ihrem Schreibtisch verwahrt und an seiner statt
vier Wochen Urlaub aus familiären Gründen für ihn eingereicht. Das war das
Mindeste, was sie für ihn tun konnte.
Mit Nicole würde sie es gerne versuchen. Nicole freute sich
ebenfalls. Es klang nicht nach plumper Anbiederung, als sie sagte, dass sie in
der praktischen Zusammenarbeit mit Karen mehr lernen würde als in fünf
Semestern im Hörsaal. Geschmeichelt nahm Karen ihre neue Assistentin mit
hinüber in den Obduktionssaal und wies sie auf eines der gekühlten
Leichenschubfächer hin, das mit der Aufschrift »Witwe Gorbatschow«
gekennzeichnet war. Irritiert zog Nicole die zwei Meter lange Lade auf. Sie war
gefüllt mit Wodka, Champagner und einer Vielzahl anderer Spirituosen. Auch
Eiswürfel gab es in Mengen.
»Der Kühlschrank in der Küche ist immer total voll mit Joghurt,
Obst, Wasser und O-Saft«, kommentierte Karen und nahm zwei Piccolo
heraus. Einen kleinen Schlummertrunk hatten sie sich verdient.
Während sich Karen und Nicole auf den Schlaf freuten, schreckte
Anna aus ihrem hoch. Sie hatte von ihrem Vater geträumt, der ihrer Mutter die
Brüste abschnitt, woraufhin sie ihm mit der Axt den Schädel spaltete und
darüber in verzweifelte Tränen ausbrach. Tatsächlich war Annas Kissen nass vom
Weinen, das Laken schweiÃgebadet. Anna machte das Licht an, um schnellstmöglich
in die Realität zurückzufinden. Sie sah auf die Uhr, es war kurz vor vier, sie
war hellwach. Noch ein paar Tage, dann würde sie die Auswirkungen des Jetlags
endlich hinter sich haben. Steif stand sie auf und ging ins angrenzende
Badezimmer. Mit kaltem Wasser vertrieb sie den letzten schweren Schatten des
Albtraums. Ihre Stirn glühte, die Nase war verstopft. Na prima, dachte sie,
jetzt bekomme ich auch noch eine Erkältung. Genervt suchte sie im Medizinschrank
herum. Doch Nasentropfen und Aspirin waren alle, das homöopathische Mittel seit
einem Jahr abgelaufen. Anna ging zurück ins Schlafzimmer, schloss zitternd das
Fenster, durch das kühle Herbstluft hereinfiel, wechselte das Laken und legte
sich wieder ins Bett. Sie löschte das Licht und hoffte, traumlos
weiterzuschlafen. Sie drehte sich nach links, sie drehte sich nach rechts. Sie
machte das Licht an und schlug das auf ihrem Nachttisch liegende Buch auf. Etwa
zehn Minuten las sie, dann stellte sie fest, keine einzige Zeile des Romans
bewusst wahrgenommen zu haben. Sie legte das Buch weg, löschte das Licht und
rotierte eine halbe Stunde weiter im Bett. Nur wenig später stand sie
resigniert wieder auf, ging hinunter in die Küche und kochte sich einen Tee,
mit dem sie sich an den Computer setzte, das beste Schlafmittel, das sie
kannte. Zuerst las sie die neuesten Meldungen auf Spiegel-online, doch das war
ihr zu deprimierend. Sie checkte ihre Mailbox, das war noch deprimierender â
nur Junk. SchlieÃlich ertappte sie sich dabei, gegoogelte Fotos von
Kriminalhauptkommissar Christian Beyer bei irgendwelchen alten
Pressekonferenzen anzustarren. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Unterbewusstes
den Suchbegriff eingetippt hatte und sie einfach nur ärgern oder verspotten
wollte, oder ob es davon überzeugt war, Fotos von Christian wären ein gutes
Schlafmittel für sie. Kopfschüttelnd verlieà sie das Web und schickte eine Mail
an Professor Weinheim, in der sie um einen baldigen Termin für eine Supervision
bat. Ihr musste mal wieder der Kopf zurechtgerückt werden.
Christian kam am nächsten Morgen erst spät in die
Einsatzzentrale und stellte erfreut fest, dass in der
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