Eisblut
Zerfallsprozess.
Alle bakteriellen und sonstigen Angriffe, denen ein lebender Organismus trotzt,
setzen sich jetzt durch. Die Totenstarre, die nach ein bis fünf Stunden
einsetzt, löst sich bereits nach zwei bis drei Tagen. Während der ersten drei
Monate kommt es zu einem Fäulnisprozess. Fäulnis und Verwesung einer Leiche,
die sogenannte Autolyse, finden mit der selbstverständlichen Folgerichtigkeit
der Natur statt und sind ein komplizierter Vorgang, den bislang kein Apparat
künstlich kopieren kann. Es handelt sich dabei um unterschiedliche,
aufeinanderfolgende Prozesse der Leichenzersetzung, die in der Regel eine
Stunde nach dem Ableben beginnen. Zunächst werden der Bauch- und Brustraum und
nach längerer Zeit der gesamte Körper von der Autolyse eingenommen. Dabei
bilden Bakterien unter anderem gröÃere Mengen an übel riechendem Ammoniakgas
und Schwefelwasserstoff, der typische Leichengeruch, der sich bei
fortgeschrittener Fäulnis verstärkt. Beim Verwesungsprozess treten zunächst die
Adern hervor und nehmen eine blau-grüne Färbung an, die sich später
fleckenartig auf den gesamten Körper ausweitet. Nach etwa achtundvierzig
Stunden ist die Bauchhaut je nach Umgebungstemperatur grün anzusehen. Zudem
schwillt der Körper an und nimmt an Volumen zu. Die Oberhaut löst sich vom
Muskelgewebe, wobei sich ab dem siebten Todestag sogenannte Faulwasserblasen an
den gelösten Stellen bilden. Es vergehen annähernd zwei Wochen, bis die
Oberhaut des Leichnams aufplatzt.
Für jedes Zersetzungsstadium gibt es speziell angepasste Organismen,
die aufeinander abgestimmt ihre Arbeit tun und die Perfektion der Natur
bezeugen. Neben Einzellern und mehrzelligen Pilzen nähren sich hochentwickelte
Insekten von Leichen. Bereits nach Todeseintritt legen Fliegen und andere
Insekten ihre Eier in Körperöffnungen, also in Wunden oder den Augen- und
Nasenöffnungen und den Mund ab und beschleunigen so den Verwesungsprozess.
SchmeiÃfliegenmaden bevorzugen feuchtes, relativ frisches Gewebe, während
Speck- und Teppichkäfer auf eingetrocknete Haut und Haare spezialisiert sind.
Käsefliegenlarven besiedeln eine Leiche, wenn sie in einen breiigen Zustand
übergeht, und groÃe Aaskäfer können auch aus zäh mumifizierter Haut noch Stücke
herausnagen.
Fettwachs entsteht bei vollständigem Fehlen von Luft, zum Beispiel
unter Wasser oder in einem luftundurchlässigen Lehmboden. Hierbei wandelt sich
das Körperfett in eine wachsartige Masse, die den Leichnam wie ein Panzer
konserviert. Dieser Prozess beginnt nach etwa sechzig Tagen.
In bewegter Luft mit einem geringen Feuchtigkeitsgehalt verdunstet
die Körperflüssigkeit, das Gewebe trocknet aus und der Leichnam schrumpft. Es
kommt zu einer Mumifizierung von Körperteilen, die eine schwärzliche Färbung
annehmen. Häufig ist dies bei Erhängten in luftigen und trockenen klimatischen
Verhältnissen zu beobachten. Fäulnis und Verwesung, aber auch Tierfraà führen
dazu, dass das gesamte Körpergewebe vom Knochengerüst gelöst wird.
Nach etwa vier Jahren findet man nur noch ein Skelett â ohne Knorpel
und Weichteile.
Um drei Uhr morgens klappte Karen in ihrem Büro in der
Rechtsmedizin entschlossen eine weitere Akte zu und legte sie zurück auf den
groÃen, noch zu bearbeitenden Stapel rechts von ihr. Der linke, schon gelesene
Stapel war weitaus kleiner.
»Schluss jetzt, wenn ich nicht bald nach Hause und in mein Bett
komme, bin ich morgen selbst ein unklarer Todesfall«, meinte sie zu der ihr
gegenübersitzenden Nicole, deren Ringe unter den Augen stündlich dunkler wurden.
Die Doktorandin nickte dankbar. Seit acht Uhr am Vorabend waren die beiden
dabei, ältere Sektionsberichte auf eventuelle Auffälligkeiten oder
Unstimmigkeiten zu überprüfen. Fünf Fälle hatte Karen ausgewählt, bei denen ihr
die angegebenen Todesursachen nicht ganz schlüssig oder eindeutig vorkamen und
die sie sich in den nächsten Tagen noch einmal ansehen wollte. Die
Exhumierungen würde sie als Erstes in der Frühe beantragen. Karen war zufrieden
mit Nicoles Leistung. Sie hatte ohne zu murren oder zu gähnen durchgehalten,
sie war aufmerksam gewesen und hatte mit den Fragen, die sie stellte, ein gutes
Gespür für die über die pure Faktenlage hinausgehenden
Interpretationsmöglichkeiten der Rechtsmedizin bewiesen. AuÃerdem besaÃ
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