Eisblut
in
Ruhe.«
Anna packte Yvonne fester und ging mit ihr Richtung Parkplatz. Lars
sah den beiden nachdenklich hinterher, dann verschwand er wieder im Stall.
Eine Stunde später lag Yvonne bei Anna in der Badewanne.
Sie hatte zwar nach Hause gewollt, doch Anna hielt es für keine gute Idee, wenn
sie jetzt allein war. Während der Fahrt hatte Yvonne keinen Ton von sich
gegeben, sie weinte nur leise vor sich hin. Also hatte Anna vorgeschlagen, mit
zu ihr zu kommen, und Yvonne schien dankbar für das Angebot.
Die Tür zum Badezimmer lieà sie offen, damit Yvonne nach ihr rufen
konnte. Sie ging hinunter in die Küche und überlegte, ob sie sich noch bei
Christian melden sollte. Es war schon nach zwei, sicher schlief er schon.
AuÃerdem wusste sie nicht, was sie ihm sagen sollte und durfte. Sie musste sich
zuerst mit Yvonne absprechen, denn der wäre es vermutlich unangenehm, wenn
Christian von ihrem Ausflug in die Abgründe der Demütigung erfuhr. Anna konnte
sich gut vorstellen, wie Yvonne jetzt in der Wanne saà und sich schrubbte und
schrubbte, um sich wieder reinzuwaschen von den Berührungen und den Blicken.
Ein hoffnungsloses Unterfangen, sie würde lernen müssen, mit der Erfahrung
umzugehen. Vielleicht konnte Anna ihr dabei Starthilfe geben.
Sie setzte Milch auf, um heiÃen Kakao zu kochen. Als Yvonne zaghaft
in die Küche kam und sich auf das Sofa am Esstisch in die hinterste Ecke
verkrümelte, goss Anna gerade zwei Tassen voll. Yvonne trug einen Jogginganzug,
den Anna ihr bereitgelegt hatte. Sie hatte Hosenbeine und Ãrmel mehrfach
umgekrempelt, weil ihr der Anzug viel zu groà war. Aber Anna wusste, wie
beruhigend jetzt weite, weiche Schlabberklamotten auf Yvonnes Unbewusstes
wirken würden. Wenn man das schlichte Vorhandensein des Körpers für eine
Verletzung der Seele schuldig sprach, tat es gut, ihn in etwas Formlosem zu
verstecken, in einem schützenden Kokon, in dem der Körper verhüllt und
jeglicher Eros verleugnet wurde, in dem die Weiblichkeit verborgen blieb, statt
sich selbstbewusst zu präsentieren und sich des ungerechtfertigten Vorwurfs der
Provokation aussetzen zu können.
Anna stellte eine Tasse vor Yvonne hin und setzte sich dazu:
»Möchtest du einen Schuss? Cognac oder Rum?«
Yvonne schüttelte den Kopf. »Nie wieder Alkohol.«
Sie nahm einen Schluck und stellte die Tasse ab. Der Kakao war noch
zu heià zum Trinken. Abwesend fuhr Yvonne mit ihrem Zeigefinger die Maserung
auf dem alten Holztisch nach.
»Ich schäme mich so«, sagte sie, ohne den Blick zu heben.
»Ich weiÃ. Aber das brauchst du nicht. Nicht vor mir, nicht vor
dir.«
»Trotzdem. Ich bin froh, dass du mich da rausgeholt hast. Aber fast
wärâs mir lieber, du hättest das nicht gesehen.«
Anna pustete ihren Kakao, sodass sich eine Haut bildete: »Was habe
ich denn gesehen? Eine Freundin, der jemand wehgetan hat. Eine Freundin, die
geweint hat.«
Yvonne sah sie überrascht an.
»Kennst du von Jacques Brel das Lied âºvoir un ami pleurerâ¹?«
Yvonne verneinte. Sie kannte weder Jacques Brel, dazu war sie viel
zu jung, noch sprach sie französisch.
Anna versuchte ihr zusammenzufassen, worum es ging: »Es ist ein
wunderschönes, sehr trauriges Lied, das beschreibt, was es alles in der Welt
gibt an Schrecken. Kämpfe in Irland, zu wenig Zärtlichkeit, der unausweichliche
Tod ⦠aber das Schrecklichste von allem ist und bleibt, was der Titel übersetzt
heiÃt: Einen Freund weinen zu sehen.«
Für den Schatten einer Millisekunde huschte ein Lächeln über Yvonnes
Gesicht. Dann versteckte sie sich wieder hinter ihrem Kakao. »Erzählst du mir
ein bisschen von dir? Von deinen Eltern ⦠Hast du eigentlich Geschwister? ⦠Oder
von Chris und dir ⦠aber nur, wenn du magst.«
Anna verstand, dass Yvonne das Freundschaftsangebot mit einem
Vertrauensbeweis besiegelt brauchte. Auch damit Yvonne über ihr Erlebnis im
Pferdestall reden konnte, musste Intimität zwischen ihnen hergestellt werden.
Also erzählte Anna. Sie erzählte von ihren Eltern, von den Schwierigkeiten, die
sie seit Jahren mit ihnen hatte, sie erzählte von ihren Liebschaften, ihrer
Einsamkeit inmitten des studentischen Partylebens, von dem Wegziehen ihrer
beiden besten Freundinnen, der Trauer über den Verlust, und sie erzählte von
Christian, dem Scheitern ihrer Beziehung und ihrer
Weitere Kostenlose Bücher