Eisblut
Sehnsucht nach einem Neuanfang.
Christian saà zu Hause in seinem Sessel. Es war drei Uhr
in der Nacht, drauÃen schlief die Stadt unter der feuchten Decke des
unaufhörlichen Nieselregens, und er wartete. Wartete wie ein Volltrottel auf
Anna, die nicht mehr anrufen, geschweige denn auftauchen würde. Er hatte die
Blicke, die sie ihm auf seiner Geburtstagsfeier zugeworfen hatte, durch die
rosarote Brille seiner Hoffnungen und Wünsche falsch interpretiert. Das waren
die ersten Anzeichen der Seuche: Spekulation und Interpretation. Jedes Wort,
jeden Blick, jede Geste auf die Goldwaage zu legen, dann hin und her zu drehen
wie eine Münze aus einem fremden Land, graviert mit fremden Zeichen, um
schlieÃlich genau den Wert herauszulesen, den man brauchte, um das zu bekommen,
was man wollte. Die Seuche. Sie breitete sich aus wie ein Gift, langsam,
schleichend, zersetzend, und wenn man schlieÃlich bemerkte, was vor sich ging,
war es schon zu spät, und die Seuche regierte Gehirn und Gonaden gleichermaÃen
und lieà einen schwachsinnige Dinge tun, wie nachts stupide im Sessel sitzen
und auf jemanden warten, der nicht kommt. Die Seuche namens Liebe. Gegengift:
Gefühllosigkeit. Mit den Nebenwirkungen Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und
Verzweiflung. Einen Preis zahlt man immer und für alles. Christian hatte sich
in seinem Leben schon oft gefragt, was schlimmer sei, die Seuche oder das
Gegengift. Meistens hatte er sich mit allen Konsequenzen für Letzteres
entschieden. Jetzt jedoch saà er in seinem Sessel und gab auf, sich zu wehren.
Er wollte die Seuche, er suchte und fand und begrüÃte sie und lud sie ein, in
seiner Mitte Platz zu nehmen, er wollte von ihr ganz erfasst werden, und wenn
er daran zugrunde ging.
Als es klingelte, schoss er aus seinem Sessel wie ein
Champagnerkorken aus der Flasche. Aber es war nicht Anna. Vor seiner Tür stand
Lars, gekleidet in einer lächerlichen Lederkluft, die fast so aufdringlich war
wie seine Bierfahne. Christian wollte ihn anschreien, allein schon, um seiner
Enttäuschung Luft zu verschaffen, als wolle er Lars persönlich vorwerfen, nicht
Anna zu sein. Doch ein Blick in Larsâ verstörte Miene lieà ihn verstummen. Er
öffnete die Tür und lieà ihn ein.
»Du siehst aus wie ein bescheuerter Dörfler, der sich zum
Harley-Treffen verkleidet hat«, sagte er mürrisch.
»Eher wie ein erotisch völlig unterbelichteter SpieÃer, der sich zu
einem S/M-Treffen
verkleidet hat«, gab Lars müde zurück.
Christian bot ihm Platz und schwarzen Kaffee an und bat um
Aufklärung. Stockend erzählte Lars, wie ihm einer seiner Kollegen bei Airbus
hinter vorgehaltener Hand und unter dem Siegel der Verschwiegenheit auf das
Foto seiner Schwester in der Zeitung angesprochen hatte. Der Kollege
behauptete, Uta vor nicht allzu langen Wochen in einem zum S/M-Schuppen
ausgebauten alten Pferdehof auÃerhalb Hamburgs gesehen zu haben. Noch bevor
Christian tief genug Luft geholt hatte, um Lars zu beschimpfen, weil er mit
dieser Information erst jetzt herausrückte, erklärte ihm Lars die Gründe für
seinen Alleingang. Das ersparte ihm Christians Vortrag keineswegs. Als Christian
zum zweiten Mal tief Luft holte, grätschte Lars dazwischen.
»Ja, ist schon gut, ich habe verstanden. Ich bin allerdings nicht
mitten in der Nacht gekommen, um mir meine Packung abzuholen. Das hätte ich
auch noch morgen früh machen können.«
Christian stutzte: »Stimmt. Also. Was hast du herausgefunden?«
»Nichts. Und zwar genau aus den Gründen, warum ich euch nicht
Bescheid gesagt habe. Ihre Freundin hat mir dazwischengefunkt. Und weil einer
gesehen hat, wie ich auf dem Hof mit der Ische eines Bullen rede, die kurz
vorher in dem Laden Aufstand gemacht hat, haben sie mich rausgeworfen, bevor
ich irgendjemanden zu meiner Schwester befragen konnte. Dankeschön.«
»Wovon redest du, Herr im Himmel?«
»Von Ihrer Freundin, dieser schlanken Brünetten, die ich nachts mal
hier mit Ihnen vor der Tür getroffen habe. Die war im Pferdestall und hat so
âne kleine Blondine rausgeholt.«
»Und woher wussten die im ⦠im Pferdestall, dass die Frau, mit der du
gesprochen hast, meine Freundin ist? Wenn sieâs überhaupt war.«
»Der Typ, der an der kleinen Blondine rumgemacht hat, der kennt sie
wohl auch. Der hat es dem Chef dort gesteckt. Und schon war ich drauÃen. Die
dachten, wir
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